Die orangene Revolution: Demokratischer Durchbruch in der Ukraine 🇺🇦





Orange Revolution als Scheideweg



Dr. Andreas Umland 




https://www.academia.edu/205531/Orange_Revolution_als_Scheideweg_Demokratisierungsschub_in_der_Ukraine_Restaurationsimpuls_in_Russland






Demokratisierungsschub in der Ukraine, Restaurationsimpuls in Russland


Die Orange Revolution, die sich am 21. November 2009 zum fünften Mal jährt, war ein bedeutender Schritt zur Demokratisierung der Ukraine. Dies betrifft insbesondere die Emanzipation der Massenmedien, Stärkung der Zivilgesellschaft und Institutionalisierung fairer Wahlen. 


Russlands Führung hingegen reagierte mit weiteren Regressionen in Ihrer Innen- und Außenpolitik. Einige neue Elemente des russländischen Autoritarismus können als „paratotalitär" bezeichnet werden. 


Die westliche Unterstützung der Farbrevolutionen kann allerdings nicht für die Verstärkung autokratischer Tendenzen im postsowjetischen Raum verantwortlich gemacht werden.

Ein affirmativer Rückblick auf die bewegenden Spätherbst- und Winterwochen in Kyiv 2004 erscheint heute als naiv. 


Die für klassische Revolutionen typische postrevolutionäre Desillusionierung war auch nach der Orange Revolution tief. Ob nun in politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht - das einstige orange Lager steht heute vor einem Scherbenhaufen. Die Koalition des Blocks „Unsere Ukraine“ und dem Julia Tymosenkos mit der Sozialistischen und anderen prowestlichen Parteien ist zerfallen, das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die Anführer der Wahlrebellion durch bizarre Politspektakel weitgehend zerstört.


Die Ukraine gehört zu jenen Ländern, die von der weltweiten Finanzkrise seit 2008 am schwersten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Staat ist im Prinzip zahlungsunfähig und wird mit westlichen Krediten über Wasser gehalten. Die bezwungen geglaubte hohe Inflation mit ihren schwerwiegenden sozialen Folgen ist zurückgekehrt. 


Angesichts der Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland wirft dieser Zustand weitergehende Fragen zur gesellschaftlichen Stabilität, territorialen Integrität und außenpolitischen Orientierung des Landes auf. Weder die bekannten Wahlbetrüger von 2004 noch die mutmaßlichen Mörder des Journalisten Georgij Gongadze von 2000 sind bestraft worden. Wie in der Kuëma-Periode ist Korruption allgegenwärtig.

Diese Liste ließe sich fortsetzen.






Postsowjetische Zeitgeschichte und Orange Revolution


Sowohl aus vergleichendpolitikwissenschaftlicher als auch aus historischdemokratietheoretischer Sicht erscheint die Orange Revolution nichtsdestoweniger als Wendepunkt in der Geschichte der Ukraine sowie des postsowjetischen Raums?


Bis 2004 waren in jenen Staaten, die zu den Gründern der UdSSR 1922 gehört hatten, weitgehend parallele Entwicklungen zu beobachten. Nach einer mehr oder minder starken Liberalisierung und Demokratisierung Anfang der 1990er Jahre machten sich hier zunehmend restaurative Tendenzen bemerkbar.


Dies spiegelt sich etwa in den jährlichen Ratings von Freedom House wider, in denen u.a. die Qualität der Wahlen und die Unabhängigkeit bedeutender Massenmedien bewertet sowie ein Gesamtindex für den Demokratisierungsgrad der Länder ermittelt wird.


Demnach sind in den vergangenen zehn Jahren im Kaukasus sowie in Zentralasien, Belarus und Russland antidemokratische Trends zu beobachten. Mit der Orangen Revolution scheint die Ukraine als einzige UdSSR-Gründungsrepublik nachhaltig aus diesem Muster ausgebrochen zu sein. 


Allerdings gab es mit der Rosenrevolution in Georgien 2003 und der Tulpenrevolution in Kirgisistan 2005 vergleichbare Erhebungen.

Anders als seinerzeit erhofft, weitete sich die Rückbesinnung dieser drei Nationen auf die demokratischen Anfänge der frühen 1990er Jahre jedoch nicht zu einer län-derübergreifenden Demokratisierungswelle im postsowjetischen Raum aus. Die politischen Reformen in Kirgisistan und Georgien versandeten. 


Dort dominiert inzwischen wieder die Exekutive, d.h. der Präsident. Lediglich die Zusammensetzung des Regierungspersonals sowie einzelne Aspekte im Habitus und Image der Herrschenden änderten sich, kaum jedoch ihr Selbstverständnis und die grundsätzlichen Mechanismen, Macht zu erlangen, zu sichern und auszuüben.


Im Rückblick erscheint der kirgisische Aufstand, teilweise aber auch die Wahlrebellion der Georgier eher als ein partieller Elitenaustausch denn als genuine Rückkehr auf den 1991 eingeschlagenen Demokratisierungsweg. 


Im Gegensatz dazu waren die Veränderungen durch die Orange Revolution in der Ukraine in zumindest dreierlei Hinsicht tiefgreifend.





Der demokratische Nachlass der Orangen Revolution


Erstens emanzipierten sich die Massenmedien, Journalisten und politischen Kommentatoren 2004 weitgehend von staatlicher Bevormundung. Die politische Berichterstattung in der Ukraine wurde dezentralisiert und pluraler. Zwar wäre es übertrieben, die ukrainischen Massenmedien bereits als Vierte Macht zu bezeichnen; hierfür fehlt es den Journalisten noch an entsprechenden Standesstrukturen, übergreifendem Corps-geist und gesellschaftlichem Gewicht.


Was die Freiheit und Unabhängigkeit von staatlicher Gängelung der wichtigsten In-formationskanäle anbelangt, wirkt das radikaldemokratische Pathos der Orangen Revolution jedoch nach. Viele Fernseh- und Zeitungsredaktionen reagieren heute sensibel auf Versuche präsidialer oder ministerieller Einmischung. 


Zwar ist richtig, dass die Manipulation des Rundfunks und der Presse durch die Politik von einer teilweisen Entprofessionalisierung journalistischer Tätigkeit durch „Politainment" und eine Verzerrung des Informationsflusses durch das Einwirken mächtiger Wirtschaftsmagnaten abgelöst wurde. 


Doch sind die ukrainischen Medien nach der Orangen Revolution wichtige Schritte hin zu einer offenen Gesellschaft gegangen, die vor dem Hintergrund gegenläufiger Entwicklungen in den Medienlandschaften anderer postsowjetischer Staaten eindeutiger kaum sein könnten.


Zweitens war die Orange Revolution ein Katalysator für die Herausbildung der Zivil-gesellschaft.' Das ukrainische Vereinswesen leidet zwar nach wie vor an Nachwirkungen des sowjetischen Totalitarismus. Die Möglichkeiten von Bürgerinitiativen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, sind immer noch beschränkt.

Trotzdem sind Fortschritte gegenüber der Kuëma-Periode unübersehbar. 


Abel Polese zufolge hat sich das Sozialkapital der ukrainischen Gesellschaft 2004 qualitativ verändert. Aus eher informell existierenden Nichtregierungsstrukturen ist ein Netz mehr oder minder formell integrierter Teilnehmer gesellschaftlicher Prozesse in der Ukraine entstanden.


Ob man Poleses Bewertung teilt oder nicht: Unzweifelhaft scheint, dass sich durch die aktive Beteiligung diverser NGOs an der Orangen Revolution das organisatorische Selbstbewusstsein der Akteure erhöht und ihre Rolle in der Gesellschaft verändert haben. Diese andere Stellung bestimmter Nichtregierungsorganisationen in der Gesellschaft dürfte ein irreversibles Erbe der Orangen Revolution sein. 


Heute ist davon auszugehen, dass sich zumindest Teile der ukrainischen Gesellschaft hartnäckig gegen eventuelle staatliche Vereinnahmungs- oder Unterdrückungsversuche zur Wehr setzen

wurden.


Drittens verlaufen die politische Willensbildung, die Parteienbildung und die Wahlen zumindest auf nationaler Ebene nur noch unter geringer direkter Anleitung der Exekutive. Zwar existieren in der Ukraine nach wie vor „administrative Ressourcen". Auch ist der Einfluss diverser „Oligarchen“ auf die Parteien und Fraktionen der Verchovna Rada groß. 


Zudem ist das Wahlsystem keineswegs perfekt - ja, es scheint Korruption und Vetternwirtschaft geradezu zu fördern.

Die Wählkämpfe der wichtigsten politischen Kräfte und die Parlamentswahlen von 2006 und 2007 verliefen jedoch relativ frei und fair sowie ohne nennenswerte Zwischenfälle.





Beobachtermissionen des Europarates und der OSZE lobten die Wahlen.


Anders als in Russland, wo regierungstreue PR- und Politmanager den Informations-raum und den politischen Prozess immer feiner steuern, kann von solch massiver politischer Lenkung durch Präsident oder Regierung in der Ukraine keine Rede mehr sein. Vielmehr ist das demokratische Wahlprozedere durch mehrfache Wiederholung nunmehr in einem Maße institutionalisiert worden, dass von einer Teilkonsolidierung der ukrainischen Demokratie gesprochen werden kann.


Freilich kamen auch im Vorfeld der Parlaments- und Regionalwahlen der letzten Jahre Dutzende von „Polittechnologen" mit ihren zweifelhaften Strategien zum Einsatz. Aber in der Ukraine „fehlt" ein zentraler Dirigent solcher Manipulationsversu-che. Die politische Landschaft verändert sich ständig, bleibt jedoch unverändert bunt.


Der wöchentlich von den Fernsehkanälen im ganzen Land übertragene Wortschwall konkurrierender Politiker hat vielmehr eine Vielstimmigkeit erreicht, die an Kakophonie grenzt.

Der nur quasi-revolutionäre Charakter der Orangen Revolution

Trotz aller späteren Enttäuschungen war die Orange Revolution damit unter historischen Gesichtspunkten bedeutsam und im postsowjetischen Umfeld beachtenswert.


Nichtsdestoweniger bleibt zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, dieses Ereignis als ,Revolution“ zu klassifizieren. Zwar wurde ein Teil der Ziele der „Revolutionäre" von 2004 - ungeachtet der heutigen Desillusionierung vieler damaliger Demonstranten und Aktivisten - erreicht. 


Dadurch unterscheiden sich die Resultate dieser Aktion prinzipiell von denen der Rosen- oder Tulpenrevolution. Auch ist nicht auszuschließen, dass sich die Protagonisten jener November- und Dezembertage seinerzeit in einem mentalen Zustand befanden, der jenem von Teilnehmern tatsächlicher Revolutionen ähnelte."


Der erfolgreiche Einsatz des orangen Lagers für die Freiheit der Medien, Zivilgesell-schaft und Wahlen stellte jedoch letztlich „nur" eine Aktion zur Durchsetzung von in Verfassung und Gesetzen der Ukraine ohnehin festgeschriebenen Grundsätzen bzw. eine Rückeroberung von bereits in der wirklichen Revolution 1989-1991 erkämpften Rechten dar. Damit war die Orange Revolution in ihren Forderungen eher wiederholend als innovativ sowie in ihrem Ergebnis eher revitalisierend als originär. Eine Klassifikation als wirkliche Revolution scheint daher übertrieben.

In gewisser Hinsicht stellt die Orange Revolution eine Art „Konter-Konterrevolution" dar: 


Sie verhinderte eine Teilrestauration vordemokratischer Zustände bzw. eine schleichende antidemokratische „Konterrevolution" in der Ukraine. Eine solche partielle oder weitgehende Wiederherstellung autokratischer Herrschaftsformen war seit den 1990er Jahren in allen postsowjetischen Staaten - die baltischen Länder ausgenommen - im Gange oder bereits vollzogen worden. 


Mit ihrer Protestbewegung schafften es die Ukrainer als einzige, sich dem regionalen Trend in wichtigen, wenn nicht entscheidenden Bereichen zu widersetzen.


Vor diesem Hintergrund war es nicht die Orange Revolution, die einen tiefgreifenden Wandel eines postsowjetischen politischen Systems bewirkte. Im Gegenteil, in den anderen postsowjetischen Staaten, die Anfang der 1990er Jahre begonnen hatten sich zu liberalisieren und pluralisieren, kam es zu einer zweiten politischen Umwandlung

- einer Art „Entdemokratisierung" oder „negativer“ Transformation. 


Je nach Sichtweise und Land kann dies als partielle oder vollständige Restauration und verkappte Rückkehr zu sowjetischen Zuständen verstanden werden. In Bezug auf die südkaukasischen Staaten könnte man davon sprechen, dass der spätsowietische Posttotalitarismus nach einem nationalliberalen Strohfeuer in elektorale Autokratien überging. 


In Belarus kam es nach ersten Demokratisierungsschritten zur Revanche der alten Eliten und schrittweisen Rezentralisierung der politischen Macht.

Die Ukraine und Russland im Vergleich

Was die Entwicklung der beiden größten postsowjetischen Staaten, der Russländischen Föderation und Ukraine, betrifft, erscheint in der Bewertung von Freedom House das Jahr 2004 als Scheidepunkt. Nach dem Rating der amerikanischen NGO war die Orange Revolution nicht nur für die Ukraine politisch bedeutsam. 


Auch die Einstufung der Qualität des politischen Systems Russlands durch Freedom House veränderte sich in jenem Jahr bis dato am stärksten - wenn auch in entgegengesetzte Richtung. 


Die 2005 durchgeführte und sich auf die Zeit von 1. Januar bis 31. Dezember 2004 beziehende Bewertung des Demokratisierungsgrades ergibt - auf einer Skala von 1,0 bis 7,0 - für die Ukraine eine Differenz von - 0,38 zum Vorjahr 2003

(s. Tabelle). Dabei bedeutet das Minuszeichen hier eine Zunahme an Demokratie (weshalb es weniger missverständlich wäre, wenn dieser Indikator „Authoritarianism Score" heißen würde). Dies war die größte Veränderung im Falle der Ukraine zwischen Ende 1998 und Ende 2008.

Für Russland wies Freedom House 2005 eine Veränderung des Democracy Score von +0,36 für 2004 gegenüber 2003 aus. Das bedeutete ebenfalls die größte Veränderung im Berichtszeitraum. Hier ist zu betonen, dass das Pluszeichen eine signifikante Abnahme von Demokratie in Russland bedeutet. Hinzuzufügen wäre, dass auch die Veränderung des Ratings zum Ende des Vorjahres 2003 mit +0,29 gegenüber Ende 2002 (in der Tabelle unter „2004" aufgelistet) für Russland relativ groß war.


 Letztere Bewertung von Freedom House bezog sich vor allem auf das Verhalten von Präsident Putin und seinem Umfeld vor und während der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2003 und 2004. Die Veränderung des Ratings spiegelt die Zunahme zwar subtil ausgeführter, aber zunehmend effektiver Einschränkungen politischer Rechte wider.






Zu Beginn von Putins erster Amtsperiode als Präsident gab es trotz bereits erkennbarer autoritärer Tendenzen noch eine sinnvolle wissenschaftliche und publizistische Diskussion im In- und Ausland um die tiefere Bedeutung seiner Präsidentschaft für Russlands Modernisierung sowie seine innen- und außenpolitischen Ziele, die Funktion seiner Innovationen für Politik und Gesellschaft sowie die Stellung seiner Herrschaft in der russländischen Nationalgeschichte. 


Bereits während der Regressionen 2003/2004 verlor die apologetische Interpretation von Putins Politik jedoch - zumindest aus demokratietheoretischer Perspektive - an Plausibilität. Mit jedem Jahr wurde klarer, dass Putins Rezentralisierung keine partielle und vorübergehende Maßnahme ist, sondern einen tiefgreifenden und auf Dauer angelegten Wandel des politischen Systems der Russländischen Föderation bedeutet.

Diese Prozesse sind in der akademischen und publizistischen Literatur zu Russland ausführlich dargelegt." Weniger wurde bislang diskutiert, ob und inwiefern die Orange Revolution Auswirkungen auf die politische Entwicklung in Russland gehabt hat. 


Der Verdacht derartiger grenzüberschreitender Rückwirkungen drängt sich auf, trat doch das Putin-Regime in der ersten Jahreshälfte 2005, also unmittelbar nach dem Erfolg der Orangen Revolution, in eine neue Entwicklungsperiode ein. Ende 2004 kam die lediglich restriktive -reaktive Phase der Sinnentleerung demokratischer Prozeduren durch das Putin-Regime zum Abschluss. 


2005 begann ein neues Stadium, das als „paratotalitär" bezeichnet werden kann.' Mit dem Terminus ,,paratotalitär" soll weniger eine tatsächliche Wie derherstellung sowjetischer Zustände angedeutet als vielmehr auf einige bedeutsame Modifikationen im Inhalt und Stil der Steuerung politischer Prozesse durch die „Polittechnologen“ des Kreml abgehoben werden. Was ist mit „paratotalitär“ gemeint?





Vom klassischen zum „paratotalitären" Neoautoritarismus


Das Gros der Maßnahmen Putins und seiner Gehilfen zur Unterwanderung demokratischer Prozesse war bis 2004 repressiver Natur. Dies betraf z.B. die Behinderung bzw. Unterwanderung pluraler Massenmedien (z.B. des Fernsehkanals NTV) oder oppositioneller Parteien (z.B. der Union Rechter Kräfte). 


Dagegen gewannen ab 2005 mobilisierende Maßnahmen an Bedeutung, die darauf zielen, den öffentlichen Diskurs und politischen Scheinwettbewerb nicht nur zu kontrollieren, sondern gezielt mit klar definierten Inhalten zu füllen.



Derlei staatliche Aktivitäten sind mit dem klassischen Instrumentarium zur Messung des Demokratisierungsgrades eines Regimes nur schwer zu erfassen. Während Putin in seiner ersten Amtsperiode als Präsident lediglich die Möglichkeiten, politische Grundrechte tatsächlich wahrzunehmen, schrittweise einschränkte und demokratische Prozesse obstruierte, griffen seine „Polittechnologen" ab 2005 ein, um den öffentlichen politischen Prozess zu gestalten - zumindest bis zu Dmitrij Medvedevs Amtsantritt als Präsident 2008.


 Unter impliziter Verletzung der Art. 13 und 14 der Verfassung der Russländischen Föderation hat der Zirkel um Putin weitgehend erfolgreich eine neue Staatsideologie mit dazu gehöriger Einheitspartei aufgebaut sowie eine De-Facto-Nationalkirche etabliert. Letztlich läuft das Ziel dieser Initiativen - wenn auch kaum deren reale Tragweite - darauf hinaus, die Gesellschaft, ja in gewisser Hinsicht sogar die Menschen auf staatlichem Wege neu zu prägen und zu uniformieren. 


Der mutmaßliche Chefideologe des ruissländischen Neoautoritarismus, Vladislav Surkov, ließ an der anvisierten „Nationalisierung der Zukunft" keinen Zweifel. Ziel sei es,

eine neue Gesellschaft, eine neue Ökonomie, eine neue Armee, einen neuen Glauben zu schaffen sowie zu beweisen, dass man über Freiheit und Gerechtigkeit auf Russisch denken und sprechen kann und muss!

Eine solche Intention und die damit verbundenen Maßnahmen erinnern entfernt an den palingenetischen, d.h. auf eine Neugeburt der Gesellschaft zielenden Impuls, der alle revolutionären und Entwicklungsdiktaturen antreibt. 


Solche Regime suggerieren eine umfassende Wiedererweckung und Reinigung der Nation; sie versuchen, eine kulturelle und anthropologische Revolution herbeizuführen.' Mit „paratotalitär" soll einerseits die Präsenz derartiger neuer, beunruhigender Tendenzen in Russland seit 2005 anerkannt werden. Andererseits soll die Qualifizierung „para" deutlich machen, dass dramatisierende Bewertungen voreilig wären.


Letzteres war jüngst in OSTEUROPA geschehen, als ein amerikanischer Politologe so weit ging, von der Entstehung eines „protofaschistischen", „faschistoiden" oder gar „faschistischen" politischen Systems in Russland zu sprechen.!


Die Innovationen der letzten Jahre unter Putin sind insofern von Interesse, als ihr Charakter und der Zeitpunkt, an dem sie einsetzen, den Eindruck erwecken, dass es sich um eine Reaktion auf die Orange Revolution gehandelt habe.I Einen ersten Hinweis darauf, welches Reizpotential die Ereignisse in der Ukraine für den Kreml hat-ten, lieferte Vladimir Putin bereits während der Orangen Revolution am 6. Dezember 2004.


Auf einer Pressekonferenz in Ankara ritt er einen seiner ersten, mit Metaphern gespickten markigen rhetorischen Angriffe auf den Westen:

Wissen Sie, was mich bezüglich der Situation, die sich in der Ukraine ent-wickelt, besonders beunruhigt? [. ..] Ich möchte nicht, dass wir, wie im Falle Deutschlands, Europa in Ost und West teilen, in Menschen erster und zweiter Kategorie, erster und zweiter Sorte - [eine Situation, in der] die Menschen erster Sorte die Möglichkeit haben, unter demokratischen, stabilen Gesetzen zu leben, während Menschen der zweiten Sorte, solche mit - im übertragenen Sinne - dunkler politischer Hautfarbe von einem guten, jedoch strengen Onkel mit Pickelhaube gesagt bekommen, welches die politische Zielrichtung ist, nach der sie leben sollen.


Und wenn der undankbare Eingeborene nicht einverstanden ist, wird er mit Hilfe eines Bomben- bzw.

Raketenknüppels bestraft, wie dies in Belgrad geschah.'

Bis 2008 folgte eine Reihe ähnlicher Attacken Putins auf die USA (Genosse Wolf weiß, wen er frisst), den Westen sowie die russländischen Demokraten, die Putin auf einer Wahlkampfrede Ende 2007 als Hochverräter brandmarkte und mit „Schakalen" verglich, die westliche „Botschaften umschleichen".





Neue Elemente der Herrschaftssicherung nach 2004


Bereits im Februar 2005, also einen Monat nach der Inauguration von Viktor Juscen-ko als neuer Präsident der Ukraine, wurden die sogenannte Demokratisch-Antifaschistische Jugendbewegung Nasi (Die Unsrigen)? sowie der weniger bekannte, allerdings noch aggressivere Evrazijskij sojuz molodezi (Eurasischer Jugendbund), gegründet. Seine Programmatik ist von den Ideen des neofaschistischen Intellektuellen Aleksandr Dugin inspiriert.


Im selben Jahr formierten sich zwei weitere derartige Organisationen - die Bewegung Junger Politischer Ökologen der Moskauer Umgebung Mestnye (Die Örtlichen) sowie die landesweite Organisation Molodaja gvardija Edinoj Rossi (Junge Garde des Einheitlichen Russland), die offizielle Jugendorganisation der Staatspartei unter der Leitung von Ivan Demidov - einem bekannten TV-Journalisten, der sich selbst als Anhänger des „Eurasismus" in der Auslegung des erwähnten Dugin bezeichnet.24

Im Mai 2005 stellte der erwähnte Präsidialamtsangestellte und offenbar Ideengeber Putins, Vladislav Surkov, auf einer halboffiziellen Rede vor dem Generalrat des Unternehmerverbands Delovaja Rossija in Moskau erstmals sein Konzept einer „Souveränen Demokratie" vor.? 


In den Worten von Thomas Ambrosio kann

diese Rede Surkovs als ideologische Antwort auf die Ereignisse in Georgien [20031 und der Ukraine [2004] betrachtet werden. Seine Erwähnung der Orangen Revolution wies auf die Angst des Kreml hin, dass sich der Sturz autoritärer Regime durch Volksaufstände in der [postsowjetischen] Region - mit entsprechender Hilfe und/oder unter Anleitung des Westens - weiter verbreiten könne. [...] 


Die Sorge darüber, dass Kritik von Außen zur Schwächung der russländischen Führung und damit zur Möglichkeit einer äußeren Kontrolle [Russlands] führen könne, basierte teilweise auf der [russländischen] Perzeption westlicher Einmischung in die Orange Revolution. 


Die Idee, dass der Westen versuchen könnte, seine früheren Erfolge durch Untergrabung der Legitimität des Kreml und Schürung eines Volksaufstandes zu wiederholen, fand in russischen politischen Kreisen [im Gefolge der ukrainischen Massenaktion zivilen Ungehorsams] weite Verbreitung. Ähnliche Neuerungen des Jahres 2005, welche den Innovationsdrang des neoautoritären Regimes in Russland unmittelbar nach der Orangen Revolution illustrieren, waren


•die Einrichtung der Gesellschaftskammer als des zentralen Transmissionsriemens zwischen der teilautonomen intellektuellen und kulturellen Elite sowie dem Obrigkeitsstaat,


•die Einführung eines antipolnisch und damit xenophob konnotierten Nationalfeiertages, des Tages der Volkseinheit am 4. November, sowie 


•die Gründung zweier zusätzlicher staatlicher TV-Propagandasender, des russisch-orthodoxen Kabelkanals Spas (Retter) mit Ivan Demidov als erstem Chefredakteur sowie des englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today.


Im Weiteren unternahm der Kreml eine Reihe ähnlicher Schritte, die auf die Herausbildung einer „unzivilen Gesellschaft" und nationalistischen Massenkultur zielten.


So initiierte oder unterstützte die Präsidialadministration offensichtlich die Produktion zahlreicher antiwestlicher Spiel- und Dokumentarfilme oder die Verbreitung von Geschichtslehrbüchern, die den Stalinismus beschönigen.


Für sich genommen ist keine dieser Maßnahmen ,,totalitär“. Allerdings wird an der hohen Dichte und einheitlichen Ausrichtung der Initiativen deutlich, dass es sich hier um Bestandteile eines Programms der russländischen Führung handelt, das auf Gehirnwäsche zielt.



Eine Art Höhepunkt in der Serie „paratotalitärer" Einsprengsel in Putins Regime nach der Orangen Revolution war der Dumawahlkampf vom Herbst 2007, als Putin zum „nationalen Leader" ausgerufen und Russland de facto wieder zu einem Einparteienstaat wurde.


Als Resultat des eskalierenden Personenkultes um Putin, der als Spitzenkandidat für „Einiges Russland* fungierte (ohne Mitglied zu sein), wandelte sich die „Partei der Macht" (partija vlasti - so der russische Terminus technicus), von einer hegemonialen zur alles beherrschenden politischen Organisation in der Legislative (die zu diesem Zeitpunkt freilich bereits weitgehend bedeutungslos geworden war). Die Machtpartei wird in der Staatsduma und den Regionalparlamenten lediglich von einigen geduldeten, mehr oder minder regierungsfreundlichen bzw. politisch harmlosen Parteien dekoriert.


 Deren Funktion erinnert an die Rolle der „Blockflöten" in der DDR, die Putin aus Dresdner Zeiten wohlbekannt sind. Unter den späteren Neuschöpfungen sind noch erwähnenswert: das im Januar 2008 gegründete Institut für Demokratie und Kooperation unter der Leitung der radikal antiwestlichen MGIMO-Professoren Natal' ja Narocnickaja und Andranik Migranjan sowie die von Präsident Dmitrij Medvedev im Mai 2009 gebildete Kommission zur Verhinderung von Versuchen einer Falsifizierung der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands, deren Verantwortlicher Sekretär wiederum der erwähnte Dugin-Jünger Demidov wurde." 


Auch die Tätigkeit dieser beiden Institutionen dient offensichtlich dazu, den politischen und intellektuellen Diskurs in Russland im Sinne der Machthaber zu vereinheitlichen, zu radikalisieren und zu instrumentalisieren.





Ambivalente Hinterlassenschaft der Orangen Revolution?


Betrachtet man die ukrainischen Ereignisse von 2004 als einen Impuls für die Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik Russlands, stellt sich das Erbe der Orangen Revolution womöglich als uneindeutig, wenn nicht negativ dar. David Lane etwa interpretiert die Farbenrevolutionen nicht nur als „revolutionäre Staatsstreiche“. Lane betont auch die unbeabsichtigten Rückwirkungen derartiger Umsturzversuche auf die gesamte Region.


Er sieht die reaktive Verhärtung der verbleibenden autoritären Regime als so gravierend an, dass er Versuche des Westens, zivilen Ungehorsam und demokratische Aufstände zu fördern, für kontraproduktiv hält.



[Die amtierenden Regierungen lernen die Methoden ihrer Opponenten und deren Verwendung von Medientechnologie [. . .]. [S]ie kreieren ihre eigenen Jugend- und Studentenorganisationen, und sie definieren ihr „feindliches Gegenüber“ mit Hinweis auf habgierige westliche Interessen und aggressive, US-geführte militärische Angriffe. 


Eine Folge der Farbenrevolutionen war, die Entwicklung von genuin wohltätigen, positiven und nichtkonfrontativen Formen von Zivilgesellschaft zu verhindern sowie offene Presse- und TV -Berichterstattung zu beschneiden. [. ..] Amtsinhaber ersinnen ihre eigenen Gegenideologien:


Sie verurteilen die globale Hegemonie des Westens und propagieren ihre selbstentworfenen Interpretationen von Souveränität, Demokratie und Zivilgesellschaft."

Die Modifizierungen des Autoritarismus unter Putin legen nahe, dass es tatsächlich eine teilweise Verkettung der politischen Ereignisse in der Ukraine 2004 mit jenen in Russland ab 2005 gab. Dennoch bleibt fraglich, ob man hier von einer Kausalität sprechen kann. 


Zivilen Ungehorsam in der Ukraine für autoritäre Entwicklungen in Russland verantwortlich zu machen, wäre irreführend. Und der Einsatz von EU und USA in Kiew vor und während der Wahlrebellion löste die Orange Revolution nicht aus, sondern begünstigte sie allenfalls.



Die Orange Revolution mag dazu beigetragen haben, dass die antidemokratischen Tendenzen des Putin-Regimes sich beschleunigt haben und das System ,paratotalitäre“ Züge angenommen hat. Die tieferen Ursachen der jüngsten Regressionen in Russland liegen allerdings eher in den Biographien der Entscheidungsträger, Pathologien der politischen Massenkultur, Erblasten der imperialen Vergangenheit und Defekten der 1991 geerbten bzw. 1993 teilerneuerten politischen Institutionen.?



Diese oder jene äußere Einwirkung - ob aus dem Westen oder postsowjetischen Umfeld - mag als Katalysator für Trends in Russland gewirkt haben. Doch der Nährboden für autoritäre Tendenzen existierte früher. Spätestens seit dem Jahr 2000 verstärkten sie sich. Der reale Beitrag der Orangen Revolution zur Verhärtung des Autoritarismus ist daher als sekundär zu beurteilen. 


Vielmehr könnte eine Konsolidierung der jungen ukrainischen Demokratie - eine momentan nicht eben nahe liegende Entwicklung - eine Beispielwirkung auf die umliegenden Staaten, insbesondere Russland und Belarus, ausüben. Im günstigsten Fall würde die Ukraine vorführen, wie sich ein postsowjetisches Land auch ohne „Machtvertikale" und internationale Abschottung erfolgreich entwickeln kann.


Aus dieser Sicht stellt die aktive Unterstützung demokratischer Tendenzen auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR - z.B. durch die offizielle Eröffnung einer langfristigen EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine - weiterhin die vielversprechendste Ostpolitik für die europäische Staatengemeinschaft dar.



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