Russlands Krieg in der Ukraine 🇺🇦: Auslöser ein uralter Minderwertigkeitskomplex?!







Hinter Putins Krieg steckt auch ein uralter russischer Minderwertigkeitskomplex



Dr. Andreas Umland



13.07.2023



https://academia.edu/resource/work/104613448



Trotz des tiefen Wunsches nach Frieden lehnen die Ukrainer Verhandlungen mit Russland ab. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Befürchtung, ein Kompromiss mit Moskau könnte nur ein kurzfristiges und instabiles Friedensabkommen hervorbringen, nicht unwahrscheinlich ist.


Sowohl die Bevölkerung als auch Eliten der Ukraine wünschen sich einen dauerhaften Frieden mit Russland mehr als andere Menschen auf der Welt. Warum steht Kyiw dann nicht an vorderster Front bei der Suche nach einem Kompromiss mit Moskau? Was ist der Grund für das scheinbar unkooperative, ja womöglich unklug erscheinende ukrainische Verhalten? 


Aus ukrainischer Sicht ist der derzeitige Krieg Russlands gegen die Ukraine sowohl zu typisch als auch zu außergewöhnlich, als dass er einfach durch Verhandlungen beendet werden könnte.




Das Typische an Russlands Krieg ist, dass er sich in ein langes historisches und breites regionales Muster russischen Verhaltens in seinen Grenzgebieten einfügt. Das Außergewöhnliche an Russlands Krieg ist, dass es nicht nur um ukrainisches Territorium geht.

Seltsamerweise geht es Moskauer Sicht in der Ukraine auch um die russische Identität.


Sowohl die Typizität als auch die Außergewöhnlichkeit des russischen Krieges - also seine Fortsetzung einer größeren Pathologie und besondere Bedeutung für Russland selbst - bedeuten, dass ein baldiger und stabiler Frieden mit Moskau nicht machbar ist. Zumindest glauben die meisten Ukrainer und anderen Osteuropäer derzeit nicht an einen stabilen Frieden.



Russland als Wiederholungstäter


Der aktuelle russische Krieg ist weder der erste Angriff Moskaus auf die ukrainische Nation, noch ist er die einzige aktuelle expansionistische Operation des Kremls in Russlands ehemaligem Imperium. Die Ukrainer haben aus ihrer eigenen Vergangenheit, aber auch aus der Geschichte und Gegenwart ihrer Nachbarn gelernt, dass man Moskau nicht trauen kann. 




Solange der russische Staat in seinem derzeitigen Zustand existiert, wird er nach ukrainischer historischer Erfahrung und vergleichender Analyse nicht ehrliche Verhandlungen führen und ein dauerhaftes Friedensabkommen unterzeichnen.


Der imperiale Drang in der russischen Staatstradition ist zu stark, um einen sinnvollen und dauerhaften Waffenstillstand zu ermöglichen. Der jahrhundertealte Expansionsdrang in Moskaus strategischer Kultur kann auch einen demokratischen Wandel des russischen politischen Regimes überleben. Dies geschah zum Beispiel nach der Ersten Russischen Republik von Februar bis Oktober 1917 und der Zweiten Russischen Republik von 1991-99.




Manifestation jahrhundertealter Kolonialpolitik


Im Gegensatz zu vielen außenstehenden Beobachtern sehen die meisten ukrainischen und anderen ostmitteleuropäischen Politiker, Experten und Diplomaten den derzeitigen russisch-ukrainischen Krieg nicht nur und nicht so sehr als Putins Obsession. Stattdessen wird dieser Krieg in den Eliten Mittel- und Osteuropas sowie des Südkaukasus und teils auch Zentralasiens als lediglich die jüngste Fortsetzung einer langen Reihe russischer konventioneller und hybrider militärischer Eroberungen wahrgenommen, die sich über Jahrhunderte erstrecken.


Ukrainer und andere Völker, die früher russischen Imperien unterstanden

- dem moskowitischen, zaristischen, sowjetischen und postsowjetischen - haben ähnliche Übergriffe mit teilweise ähnlichen Begründungen erlebt.


Die gegenwärtige Aggression Russlands ist die jüngste Manifestation jahrhundertealter Kolonialpolitik und imperialer Expansion Moskaus.

Im Februar 2022 waren viele außenstehende Beobachter verblüfft über Putins Behauptung, Moskaus Großangriff auf den ukrainischen Staat - mit seinem jüdischen Präsidenten - sei von russischer Sorge um Kyjiwer Faschismus getrieben und bezwecke die „Entnazifizierung" der Ukraine.




Im Gegensatz dazu waren viele Ost- und Mitteleuropäer bereits mit der russischen Behauptung vertraut, dass ihre Regierungen oder gar gesamten Eliten faschistisch seien. Beispielsweise intervenierte fast genau dreißig Jahre vor der Eskalation in der Ukraine, im Jahr 1992, die 14. russische Armee militärisch in einen inner-moldauischen Konflikt.



Schlimmer als die deutschen SS-Männer


Der Kommandeur der damaligen 14. Armee, Russlands legendärer und inzwischen verstorbener General Aleksandr Lebed, rechtfertigte den illegalen Eingriff seiner Truppen in einem fremden Land mit einer Behauptung, die Putins Lüge von 2022 vorgriff. Lebed sagte 1992 auf einer Pressekonferenz, die neue Regierung der jungen Republik Moldau in Chisinäu verhalte sich schlimmer als die deutschen SS-Männer 50 Jahre zuvor. Die offene Intervention von Lebeds regulären russischen Truppen führte zu einer dauerhaften Spaltung der Republik Moldau.


Schwer bewaffnete Reste der 14. russischen Armee, die so genannte Operative Gruppe der Russischen Föderation, befinden sich noch immer als ungebetene Gäste auf dem auch von Moskau anerkannten Staatsgebiet der Republik Moldau. Daran änderte weder ein russisch-moldauischer Vertrag über den Abzug der Truppen von 1994 etwas. 





Noch half es Chisināu, dass sich die Republik Moldau 1994 in Artikel 11 ihrer neuen Verfassung als blockfrei erklärte und damit einen NATO-Beitritt ausschloss. Trotz des seither gültigen russischen Abzugsversprechens und moldauischen Neutralitätsstatus setzt sich Moskaus ungewünschte Truppenstationierung und staatliche Spaltung Moldaus bis heute fort.



Prä- und postputinscher Kolonialismus


Diese moldauische Episode von 1992-1994 - in einer relativ prowestlichen und liberalen Periode der jüngeren russischen Geschichte, in der Wladimir Putin ein politischer Nobody in St. Petersburg war - veranschaulicht einen größeren Sachverhalt. Es spielt - zumindest aus mittelosteuropäischer Sicht - keine Rolle, ob Putin in Zukunft an der Macht ist oder nicht. Es ist auch irrelevant, ob das russische Regime demokratisch, totalitär, monarchisch, oligarchisch oder was auch immer ist: 


Moskaus Expansionsdrang wird wahrscheinlich fortbestehen.

Viele westliche Analysten würden derartigen ethnohistorischen

Determinismus als unwissenschaftlich abtun. Doch ist diese düstere

Einschätzung in den Nationen um die Russische Föderation und auch bei einigen Menschen innerhalb der Russischen Föderation ein Gemeinplatz.




Der Kolonialismus und Expansionsdrang Russlands wurde den Völkern Ostmitteleuropas, des Kaukasus und Zentralasiens in Dutzenden, oft blutigen Ubergriffen in verschiedenen historischen Epochen immer wider vor Augen geführt. Sie geschahen unter variablen Umständen und mit unterschiedlichen Begründungen und Ergebnissen. Doch warn Moskaus bewaffnete Eingriffe meist darauf ausgerichtet, russische imperiale Macht zu behaupten beziehungsweise zu sichern.



Waffenstillstand mit Moskau derzeit unstrategisch


In der Zeit vor 2022 haben russische sog. „Spezialoperationen" (spezoperazazii) oder auch „Säuberungen" (satschistki) häufig lokale, nach Unabhängigkeit strebende Gruppen unterdrückt, manchmal auch ausgelöscht. Die russische Großinvasion in der Ukraine im Jahr 2022 ist die jüngste Ausprägung eines längeren und umfassenderen Trends.


Derartige historischen Erinnerungen sind nicht nur in der Ukraine, sondern in der gesamten postkommunistischen Welt anzutreffen. Vor ihrem Hintergrund erscheint die Suche nach einem sinnvollen

Waffenstillstand mit Moskau derzeit als unstrategisch, wen nicht töricht.





Putin & Co. oder ihre Nachfolger könnten sich zwar auf einen politischen Dialog einlassen und scheinkonstruktive Verhandlungen führen. Der Kreml könnte sogar Interesse entwickeln, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und vertrauensbildende Maßnahmen durchzuführen.


Ein solches Verhalten Russlands - so ein weitverbreiteter Verdacht in der postsowjetischen Welt - würde jedoch nur instrumentellen Zwecken dienen. Es wäre ein vorübergehender taktischer Rückzug zur militärischen Umgruppierung und Nachrüstung. Später würde Moskau mit neuer Wucht seine grenzüberschreitende Dominanz, Macht und Hegemonie zu behaupten. Wenn nötig, würde der Kreml dies wiederum mit militärischer Gewalt und massivem Terror gegen die Zivilbevölkerung tun.



Ausdruck eines russischen

Minderwertigkeitskomplexes


Was die Ukraine betrifft, ist die russische Aggressivität zudem besonders virulent und kompromisslos. Der Großteil des russischen Mainstream-Nationalismus erkennt die ukrainische Identität und Kultur nicht als wirklich und unabhängig national an. Er betrachtet die ukrainischen Traditionen und ukrainische Sprache als lokale Folklore, die der russischen Nationalität und Hochkultur nicht ebenbürtig und ihr subaltern ist. 


Diese offensichtliche Missachtung hat ihre Wurzeln nicht nur und nicht so sehr in Moskauer Arroganz. Vielmehr ist sie Ausdruck eines russischen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber den Ukrainern als der älteren, stärker christlich-orthodoxen, klarer definierten und eindeutiger europäischen ostslawischen „Bruder-Nation".





Der ukrainische Nationalismus und die ukrainische Staatlichkeit haben nach Auffassung eines Großteils der russischen Elite und Bevölkerung keine Existenzberechtigung. Ihre bloße Toleranz ist Blasphemie. Die ukrainischen Gebiete sind, mit teilweiser Ausnahme der Westukraine, „klein-" oder „neurussisches*" Territorium, auf Russisch „Malorossija" und „Noworossija". 


Der Krieg Moskaus in der Ukraine kann kein echter Krieg sein. Es handelt sich lediglich um eine Spezialoperation innerhalb der Grenzen des Großrusslands.

Ukrainer und andere Osteuropäer sind sich dieser und ähnlicher russischer Pathologien bewusst. Auch wenn die russische Ukrainophobie nicht an den eliminatorischen Antisemitismus der Nazis reicht, ist Moskaus Agenda ein letztlich genozidales Programm, das wenig Raum für Kompromisse lässt. 


Kyjiw könnte zwar in Zukunft so viel Interesse an einer Beendigung des Krieges entwickeln, dass es zu entsprechenden Zugeständnissen bereit ist. Es ist jedoch unklar, welche Art von dauerhaftem Kompromiss mit Moskau erreicht werden könnte.


Wahrscheinlich müsste sich die Ukraine weitgehenden russischen Forderungen unterwerfen, wie dies in den berüchtigten Minsker Vereinbarungen von 2014-2015 geschah.



Schlussfolgerungen


Eine Waffenruhe und Verhandlungslösung mit Moskau wäre für die Bürger der Ukraine als auch ukrainische Regierung prinzipiell wünschenswert. Strategische Erwägungen und historische Erfahrungen sprechen jedoch für Kyjiw gegen einen vorzeitigen Waffenstillstand, der auf elementarem Vertrauen beruht. 


Da ein heutiges Kriegsende für den Kreml nur den Zweck hätte, die russische Armee, Wirtschaft und Bevölkerung auf einen späteren Wiederangriff vorzubereiten, wäre ein Friedensschluss heute potenziell selbstzerstörerisch.




Kompromissbereite ukrainische Politiker und Diplomaten müssen möglicherweise nicht einmal von ihren unnachgiebigen Kollegen unter Druck gesetzt werden, um von verfrühten Gesprächen mit Moskau abzusehen. Ein aktuelles Friedensabkommen würde ukrainische historische Erinnerung, vergleichende Beobachtung und strategische Kultur verleugnen. 


Jahrhundertelange tragische Erfahrungen der eigenen und anderer postsowietischer Nationen sowie von Völkern wie den Polen und Finnen mit Moskauer Imperialismus enthalten bittere Lehren. Sie raten allen Ukrainern, ob nun Tauben oder Falken, eine russische Niederlage abzuwarten, bevor sinnvolle Verhandlungen mit dem Kreml aufgenommen werden können.

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