RU - Propaganda: Russlands hybride Kriegsführung gegen die Ukraine 🇺🇦

HISTORISCH 







ESOTERIK ALS ERKENNTNISMETHODE:



Wie russische Pseudo-Wissenschaftler zu Moskaus antiwestlicher Wende beigetragen haben




Andreas Umland ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten und Generalredakteur der Buchreihe *Soviet and Post-Soviet Politics and Society"



2022



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Kurzfassung:


Eine Reihe parawissenschaftlicher Tendenzen in der russischen Sozialwissenschaft hat zur Vorbereitung des Ukraine-Krieges beigetragen. Neben den Propaganda- und Desinformationskampagnen des Kremls ist eine intellektuelle Deformation der russischen Elite durch manichäische Ideen von Theoretikern wie Lew Gumiljow und Alexander Dugin mitverantwortlich für die zunehmende Abspaltung Russlands von Europa. 


Spekulative, oft verschwörerische, teils okkultistische und rassistische Theorien haben den öffentlichen Diskurs im postsowjetischen Raum infiziert und ihre Verfechter haben anerkannte Sozialwissenschaftler und Historiker aus intellektuellen und medialen Debatten verdrängt. 


Dieser öffentliche Diskurs ist seit Beginn von Glasnost vor 35 Jahren zu beobachten und ein Bestimmungsfaktor für den russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 geworden.


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1 Einleitung


Ein besonders dunkler Aspekt des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine und des geopolitischen Konflikts mit dem Westen ist dessen breite Unterstützung nicht nur unter „einfachen“ Russen, sondern auch von den Eliten des Landes. Nicht allein Wladimir Putin und sein Umfeld stehen hinter Russlands immer aggressiverer Außenpolitik.


Auch große Teile der russischen Staatsbürokratie, Professorenschaft, Kunst- und Kulturszene, pädagogischen Klasse sowie Zivilgesellschaft unterstützen zumindest partiell Russlands antiwestlichen Kurs und Angriff auf die Ukraine. 


Dieses Phänomen erinnert an die Weimarer Republik der Zwischenkriegszeit, in der ebenfalls Demokratie, Verwestlichung und Republikanismus von vielen Akademikern und Intellektuellen abgelehnt und untergraben wurden.


Die normative Entfremdung weiter Teile der hochgebildeten russischen Bevölkerung von Europa hat verschiedene Gründe. Für viele an staatlichen Hochschulen und Forschungsinstituten beschäftigte Wissenschaftler mögen utilitaristische Erwägungen oder schlichtweg Angst vor der Regierung im Vordergrund stehen. 


Dieses Motiv dürfte bei zumindest einigen der mehr als 700 russischen Universitätsrektoren den Ausschlag gegeben haben, im März 2022 in einer gemeinsamen Erklärung die so genannte „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine öffentlich zu billigen.


Viele hochgebildete Russen scheinen jedoch die Aggression ihres Landes in der Ukraine nicht nur aus karrieristischen Gründen, sondern auch aus tiefstem Herzen zu unterstützen. 


Einige scheuen sich nicht, ihren Standpunkt wiederholt und unmissverständlich kundzutun. Das offenbart beispielsweise ein kürzlich erschienenes Interview der New York Times mit dem einst angesehenen Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Moskauer Wirtschaftshochschule (HSE), Sergej Karaganow, mit dem vielsagenden Titel „Warum Russland glaubt, dass es den Krieg in der Ukraine nicht verlieren kann.“


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2 Auf der Suche nach Sinn


Die Hintergründe für den zunehmend schrillen russischen Eskapismus sind vielfältig. Sie liegen in einer Reihe von bisher wenig beachteten Pathologien der postsowjetischen politischen Kultur und kollektiven Psychologie sowie in der Geschichte der modernen russischen Literatur und Wissenschaft. 


Letztere Quelle der zeitgenössischen intellektuellen Dislokation ist von der internationalen Osteuropaforschung und russischen regulären Sozialwissenschaft nur unzureichend erforscht. 


Denn die Protagonisten des russischen quasiakademischen Querdenkens werden mitunter nicht als Forschungsobjekte betrachtet, sondern als kuriose Kollegen in Instituten und Konferenzen sowie als konkurrierende Autoren in intellektuellen Zeitschriften oder Verlagen.


In den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten haben sowohl russische als auch westliche Sozialwissenschaftler die spekulativen Texte und Vorträge ihrer esoterisch orientierten Kollegen oft ignoriert oder verspottet. 


Die methodische Schwäche, empirische Dünne und internationale Irrelevanz der postsowjetischen Sozialparawissenschaft und historischen Pseudoforschung haben ihre interne öffentliche Resonanz jedoch oft nicht geschmälert. 


Im Gegenteil, die kontrafaktischen, belletristischen und oft verschwörungstheoretischen Aspekte der alternativen russischen Geschichtsschreibung haben ihre Popularität eher gesteigert als verringert.


Die Aussagen dieser Autoren sind oft eher präskriptiv als beschreibend und werden als treffende Beiträge zur nationalen Selbstfindung des postsowjetischen Russlands wahrgenommen. 


Die kruden, vereinfachenden und spekulativen Erklärungen gesellschaftlicher Entwicklungen dieser Publizisten, die sich gern als Propheten verstehen, finden eine dankbare Leserschaft. Ihre Texte sind besser als datengestützte analytische Forschung dazu geeignet, ontologische Leere nach dem Fall der kommunistischen Staatsideologie zu füllen.




Als Resultat sind neue parawissenschaftliche Disziplinen entstanden, zum Teil mit eigenen Unterschulen.

Dies gilt etwa für die so genannten Zivilisationswissenschaften und die Kulturologie oder für Ansätze, die man als Bio-Ethnologie oder Physio-Geopolitik bezeichnen könnte – dazu unten mehr.

Die prinzipielle Aufgabe dieser und ähnlicher alternativer Lehren ist eine eher metaphysisch als empirisch begründete Offenlegung „tiefer“ Vergangenheit, Strukturen und Gesetze von Gesellschaften. 

In den meisten Fällen laufen diese Theorien auf eine umfassende Neuinterpretation, ja grundlegende Neuschreibung menschlicher Geschichte hinaus.


Letzteres kann sogar zur Neudatierung historischer Ereignisse und zur Erstellung alternativer Chronologien für die Geschichte Europas und Asiens führen. 

Der Moskauer Mathematiker und Hobbyhistoriker Anatoli Fomenko (geb. 1945) ist für solche Manipulationen über Russlands Grenzen hinaus bekannt geworden. Dennoch wird er zu Hause nach wie vor viel gelesen und verehrt. 

Seit einem Vierteljahrhundert propagiert Fomenko in pseudowissenschaftlichen Büchern die Idee, dass die Antike als solche nicht existiert hat und dass viele historischen Ereignisse viel später oder anders stattgefunden haben, als in Schulen und Universitäten gelehrt. Zum Beispiel wurde ihm zufolge Jesus im 12. Jahrhundert in Konstantinopel gekreuzigt.

Sowohl Schüler und Studenten als auch die breite Öffentlichkeit Russlands werden in den Massenmedien, Buchläden und sozialen Netzwerken und teilweise auch in seriösen Bildungseinrichtungen mit einer Fülle unterschiedlicher Theorien über Geschichte, Leben und Politik konfrontiert. 

Im Gegensatz zur UdSSR gibt es heute in Russland eine große Vielfalt an geschichtlichen und philosophischen Stimmen. 

Unter den vielen öffentlich kursierenden Erklärungsmodellen sind allerdings diejenigen in der Minderheit, die auf methodisch sensibler Sozialforschung und vergleichenden Untersuchungen beruhen sowie wissenschaftlich begutachtet wurden.

Die Forschungsergebnisse und Medienauftritte der seriösen und international anerkannten Politikwissenschaftler, Soziologen und Historiker – die es natürlich auch in Russland gibt – gehen daher oft unter. 


Sie versinken in der scheinbar pluralistischen Kakophonie eines medialen und intellektuellen Diskurses, in dem spekulative Kommentare dominieren. 


Das staatlich geförderte Überangebot an manichäischen und konspirologischen Welterklärungen – vor allem im Hinblick auf den Konflikt zwischen Russland und dem Westenschafft neuen Bedarf an kulturpessimistischen bis protofaschistischen Ideologien.


Die rasche Radikalisierung und soziale Ausbreitung des russischen Antiwestlertums in den letzten Jahren ist nur zum Teil ein Produkt gezielter Manipulation der öffentlichen Diskussion und Entscheidungsfindung durch Spindoktoren des Kremls.

 Einige Ursachen für die heutigen Entgleisungen der russischen Intelligenz reichen bis in die Jelzin-Jahre, die Sowjetzeit und sogar in die Zarenzeit zurück. 

Sie sind vielfältig und lassen sich an zwei von vielen prominenten Beispielen veranschaulichenden Lehren des Pseudo-Ethnologen Lew Gumiljow (1912–1992) und des Metaphysikers Aleksandr Dugin (geb. 1962).


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Beispiele der irrationalen hybriden Kriegsführung gegen die Ukraine 


3 Die Rolle von Gumiljow und Dugin


Diese zwei viel publizierten russischen Theoretiker sind beide habilitiert und werden manchmal in einem Atemzug genannt. 


Sowohl Gumiljow als auch Dugin haben den Begriff „Eurasismus“ affirmativ verwendet, antiwestliche Theoriegebäude entworfen und über den akademischen Elfenbeinturm hinaus beträchtliche Bekanntheit erlangt. Hier enden jedoch die Ähnlichkeiten der politischen Inhalte, gesellschaftlichen Rollen und strukturellen Besonderheiten ihrer Texte und öffentlichen Auftritte.


Lew Gumiljow ist der Sohn der berühmten russischen Dichter Nikolaj Gumiljow und Anna Achmatowa. Er starb kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Seine Schriften konnten während der Sowjetzeit nur sporadisch erscheinen, wurden im Anschluss aber in hohen Auflagen veröffentlicht. 


Damit hat Gumiljow posthum über 30 Jahre lang einen tiefen Einfluss auf die postsowjetische Gesellschaft ausgeübt. Dugins journalistische Tätigkeit in Russland begann dagegen erst um die Zeit von Gumiljows Tod. 


Seitdem nimmt die multimediale Tätigkeit des bärtigen Metaphysikers stetig zu.


Gumiljow war ein antisowjetischer Dissident, der jedoch teilweise in das spätsowjetische wissenschaftliche Establishment integriert wurde. Er genießt heute hohes Ansehen, insbesondere bei älteren Mitgliedern der pädagogischen und akademischen Kreise, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind. Einige seiner Werke werden in Schulen und Universitäten als Lehrbücher verwendet. Viele Russen verehren ihn als genialen russischen Denker des 20. Jahrhunderts. 


Im Sommer 2004 sagte Wladimir Putin bei einer Rede in Kasachstans Hauptstadt Astana: „Gumiljows Ideen erobern die Massen.“


Dugin entstammt der nonkonformistischen Jugendszene der späten Sowjetunion und der antisystemischen Opposition gegen die prowestliche russische Politik in den neunziger Jahren.


Er ist tief in internationale rechtsextreme Netzwerke eingebunden. Mit seinen zahlreichen Texten und Videoperformances spricht er ein jüngeres, weniger akademisches Publikum als Gumiljow an. Leser soll er auch in russischen Militärakademien und Sicherheitsdiensten haben. 


Anders als Gumiljow, der international wenig bekannt wurde, ist Dugin weltweit als russischer Extremist berüchtigt. Er wird oft als Ideologe Putins bezeichnet. Allerdings scheint es nie ein Treffen zwischen dem Metaphysiker und dem Präsidenten gegeben zu haben; ein direkter Einfluss Dugins auf Putins Politik ist nicht erkennbar.


Der von Putin proklamierte Eurasismus hat andere Quellen und Inhalte als Dugins sogenannter Neo- Eurasismus.


Obwohl die Biografien von Gumiljow und Dugin kaum unterschiedlicher sein könnten, ähnelt sich die gesellschaftspolitische Wirkung ihrer Schriften. Jeder der beiden hat auf seine Weise dazu beigetragen, die intellektuelle Landschaft Russlands zu deformieren sowie die russischen Sozial- und Geisteswissenschaften mit alternativen Geschichtsdarstellungen zu infiltrieren. Mit ihren Schriften haben sie zur Vorbereitung von Russlands Krieg gegen die Ukraine und einer neuen systemischen Konfrontation mit dem Westen beigetragen – im Fall von Gumiljow unbewusst, im Fall von Dugin ganz gezielt.


3.1 Die Gumiljowsche Ethnogenesetheorie


Gumiljows Schriften haben einen zentralen Beitrag zu den spezifisch russischen postsowjetischen Zivilisationsstudien und ihrem radikalen Dualismus geleistet. 


In seinem Hauptwerk Ethnogenese und die Biosphäre der Erde entwickelt Gumiljow eine umfassende Theorie der Weltgeschichte, die teilweise auf biologischen Argumenten basiert. Zwar ist Gumiljow kein primitiver Rassist, der Menschengruppen nach ihrem Phänotyp hierarchisiert. Allerdings verbindet er das soziopolitische Leben kultureller Gemeinschaften mit außergesellschaftlichen Determinanten aus der Bio- oder gar Stratosphäre, die angeblich auf die Menschheit einwirken. 


Seiner Ansicht nach sind ethnische Gruppen (Nationa- litäten und Nationen) und superethnische Konglomerate (pannationale Gruppen und Zivilisationen) in erster Linie natürliche, in zweiter Linie soziokulturelle Gemeinschaften. 


Sie befinden sich in einem zyklischen Prozess des Auf- und Abstiegs, in dem „passionare“ Heldenfiguren einerseits und parasitäre Fremdgruppen andererseits eine zentrale Rolle spielen. Während selbstlose und aufopferungsvolle „Passionare“ eine Ethnie zur Blüte führen, erzeugt die Vermischung eines Wirtsvolkes mit Vertretern fremder Ethnien (z.  B. Juden) so genannte „Chimären“, die zum Aussterben verurteilt sind. 


Mysteriöse Mikromutationen, verursacht durch bestimmte kosmische und/oder solare Strahlungen aus dem All, die Gumiljow nicht näher spezifiziert, sind für eine mehr oder weniger starke Dynamik in der Entwicklung von Ethnien und Superethnien verantwortlich.


Solche Ideen sind ein Grund dafür, dass Gumiljow außerhalb Russlands wenig Anerkennung gefunden hat, obwohl seine Ansichten gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Denken der Europäischen Neuen Rechten der Nachkriegszeit aufweisen. 


Während diese Theorien für die meisten westlichen Leser abstrus klingen, haben sie Gumiljow in Russland zu Ruhm verholfen – oder zumindest seinen öffentlichen Status als „Genie“ nicht geschmälert. 


Die weitgehend positive Rezeption Gumiljows, auch in Teilen der russischen akademischen Landschaft, hat die Herausbildung der postsowjetischen russischen Zivilisationsforschung geprägt. Einige seiner geschlossenen Geschichtsmodelle werden an Universitäten gelehrt.


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3.2 Dugins eklektischer Antiliberalismus


Während Gumiljow mit seinen Ideen vor allem in den akademischen und pädagogischen Raum vordringt, ist Dugin ein prominenter Akteur in den elektronischen und sozialen Medien. Dugin war mehrere Jahre lang Leiter des Lehrstuhls für Soziologie der internationalen Beziehungen an der ansonsten renommierten Moskauer Staatlichen Universität (MGU). 


Seine vorübergehende Berufung an die skandalumwitterte Soziologische Fakultät der MGU war jedoch eher ein Sonderfall. Im Gegensatz zu Gumiljows leiden Dugins Schriften unter weitreichender Stigmatisierung im russischen akademischen Mainstream.


Eine vollständige Darstellung von Dugins Ideenvielfalt ist schwieriger als bei Gumiljows Geschichtsspekulationen. Der Großteil von Gumiljows Werken dient der historischen Illustration seiner semibiologischen Ethnogenesetheorie. 


Dugins Werk hingegen trägt postmoderne Züge und zeichnet sich durch theoretische Beliebigkeit sowie programmatische Offenheit aus.


Zentrales Grundmotiv der Texte Dugins ist die radikale Ablehnung der heutigen liberalen Welt. Dugins Analyse des Niedergangs und seine Vorschläge zur Überwindung der westlich geprägten Nachkriegsmoderne folgen jedoch keiner klaren Linie. 


Im Gegensatz zu Gumiljows monokausaler Weltsicht ist Dugins Diskurs plural, eklektisch und oft widersprüchlich.


Trotz oder gerade wegen seiner elliptischen Rhetorik hat Dugin im weltweiten antiliberalen und vor allem neofaschistischen Milieu eine Anhängerschaft gefunden. Bei Besuchen in den Vereinigten Staaten wurde Dugin paradoxerweise von dem späten Zbigniew Brzezinski sowie von Francis Fukuyama zu kurzen Gesprächen empfangen, die Dugin anschließend öffentlich machte und seitdem wiederholt erwähnt hat. 


Im Jahr 2014 stufte die angesehene US- Zeitschrift Foreign Policy Dugin gar als einen der weltweit 100 „führenden globalen Denker“ in der Kategorie „Agitatoren“ ein. 


Solche Überschätzungen seines Einflusses verdeutlichen die erstaunliche Aufmerksamkeit, die Dugins faschistischer Geschichtserzählung zuteil wurde und wird.


Prägend für die frühe Phase von Dugins Entwicklung in den 90er-Jahren war das Interesse des Nonkonformisten an klassischen westeuropäischen und nordamerikanischen  

geopolitischen Theorien der Vor- und Zwischenkriegszeit, etwa an den Schriften von Sir Halford Mackinder und Karl Haushofer. 


Gleichzeitig entdeckte Dugin die deutsche „Konservative Revolution“ für sich, nicht zuletzt den „Kronjuristen“ des Dritten Reiches, Carl Schmitt, der später in Russland zu einem populären politischen Theoretiker avancierte. Diese Beschäftigung führte zu Dugins zeitweiliger Begeisterung für eine Art Physio-Geopolitik. 


Diesem Ansatz zufolge erklärt die geographische Lage von Nationen auf Kontinenten und deren Entfernung zu den Ozeanen sowie der daraus resultierende telluro- bzw. thalassokratische (d. h. land- oder meeresbasierte) Charakter ihrer Kulturen die Weltgeschichte. 


Die kollektivistischen und autoritären Landmächte, heute angeführt von Russland, befinden sich – so Dugins damalige Schriften – in einem jahrhundertelangen Existenzkampf mit den individualistischen und liberalen Seemächten, heute angeführt von den USA.


Für die Kommunikation seiner Ideen innerhalb Russlands verwendet Dugin den Begriff „Neo-Eurasismus“ eher als Verschleierungsinstrument als zur wahrheitsgemäßen Identifikation seiner grundlegenden Quellen.


Mit Neo- Eurasismus verdeckt er das Einschleusen antiliberaler nichtrussischer Ideen wie Integraler Traditionalismus, Nationalbolschewismus, politischer Okkultismus, Ethnopluralismus, Satanismus usw. in den russischen intellektuellen Diskurs.


Er verwendet den Namen einer bekannten russischen intellektuellen Emigrantenbewegung der Zwischenkriegszeit, der „Eurasier“, um die oft protofaschistischen westlichen Quellen seiner radikal antiwestlichen Theorien zu verdunkeln. Anders als Gumiljows haben seine Schriften jedoch keine breitere Resonanz im sozialwissenschaftlichen Establishment Russlands gefunden und werden von den Machthabern nur selten öffentlich zitiert.


Obwohl Dugin mehrere Jahre lang einen Lehrstuhl an der MGU innehatte, wird er im Allgemeinen nicht als seriöser Akademiker wahrgenommen – nicht einmal unter euroskeptischen russischen Sozial- und Geisteswissenschaftlern.



4 Konspirologie versus Demokratie


Dennoch hat Dugin neben anderen Verschwörungstheoretikern dazu beigetragen, nicht nur die russische Öffentlichkeit mit manichäischen Ideen zu vergiften.


Die starke Präsenz von Dugin und ähnlichen Akteuren in den elektronischen sowie sozialen Medien und im Buchhandel Russlands hat die Relativierung historischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Erklärung russischer und allgemeiner internationaler Beziehungen gefördert. 


Das Eindringen spekulativen Denkens in die öffentliche intellektuelle Diskussion ist ebenfalls in anderen Gesellschaften der Welt und neuerdings auch in einigen westlichen Ländern zu beobachten. 


Die Abkopplung intellektueller und medialer Debatten in russischen gedruckten, elektronischen und sozialen Medien von den Ergebnissen begutachteter vergleichender Geschichts- und Sozialforschung geht jedoch viel weiter.


Insbesondere in den letzten Jahren und Monaten hat sie eine zunehmende Abwanderung oder Isolierung russischer Sozialwissenschaftler und Historiker ausgelöst, deren Forschung auf rationalistischen Prämissen und empirischen Daten beruht.


Die neue Verzerrung des Verhältnisses zwischen russischer Sozialwissenschaft und Gesellschaft nach dem Ende der UdSSR hatte bereits begonnen, bevor Putins politische Technologen im öffentlichen Diskurs aktiv wurden. Die Popularität von Fomenko, Gumiljow, Dugin und einer Reihe ähnlicher Pseudohistoriker und Parawissenschaftler war daher nicht nur ein Symptom für den Aufstieg eines neuen postsowjetischen Antiliberalismus.


Die Tausenden von Schriften und anderen Medienprodukten russischer antiwestlicher Intellektueller spielten eine ähnliche Rolle wie die Konservative Revolution beim Niedergang der Weimarer Republik. 


Sie wurden zu wichtigen Determinanten der Abkehr Russlands von Europa im neuen Jahrtausend.


Entgegen einigen Annahmen der optimistischeren Vertreter der Transformationsforschung bringt die innere und äußere Öffnung eines zerfallenden Imperiums, wie schon das deutsche Beispiel der Zwischenkriegszeit zeigte, nicht notwendigerweise nachhaltige Demokratisierung und außenpolitische Mäßigung mit sich. 


In gewissen Fällen sind das imperialistische Motiv und andere vordemokratische Traditionen derart bestimmend, dass sie nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung selbst in gebildeteren Gesellschaftsschichten nachwirken, denen man eigentlich eine Neigung zu Liberalismus und Pluralismus zuschreiben würde. 


Vor diesem Hintergrund waren der Aufstieg und das Ressentiment der heutigen putinistischen Führungsriege nicht nur ein Bestimmungsfaktor, sondern auch der Ausdruck einer breiteren russischen posttotalitären Aggressivität, die bereits vor und parallel zu Putins Erscheinen auf der Weltbühne anstieg.


Diese und andere Pathologien postsowjetischer Gesellschaften überführten die postimperiale Situation und das zunächst relativ saturierte äußere Verhalten der neuen Russischen Föderation schrittweise in eine neoimperialistische und expansive Regression. 


Teile des akademischen Milieus, der schreibenden Intelligenzija und des breiteren Bildungsbürgertums sind heute ebenso in konspirologischen und manichäischen Denkmustern gefangen wie andere russische Gesellschaftsschichten. 


Inzwischen kann man nicht bloß von einer propagandistischen Dominanz, sondern auch von einer kulturellen Hegemonie des imperialen Nationalismus in Russland sprechen. 


In Anbetracht dessen erfordert eine Erholung der russischen Gesellschaft weit mehr als einen politischen Regimewechsel, nämlich zugleich eine Wiedergeburt der Sozial- und Geisteswissenschaften des Landes sowie seines humanistischen Intellektuellendiskurses. 

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