Russlands Wahnvorstellungen eines "Neurusslands"

 "Neurussland" als anti-ukrainische Konstruktion im Dombass nach 2014 





HINWEIS:


In diesem Beitrag wird von „Separatisten“ und „Bürgerkrieg“ in der Ukraine geschrieben.  Ich habe diese zwei Worte in Anführungszeichen gesetzt, da dieses narrativ Russlands längst widerlegt wurde. Es ist ein illegaler und völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Der erste Überfall Russlands gegen die Ukraine hat 2014 stattgefunden und hielt bis zum 23.02.2022 an. 

Der zweite Überfall Russlands gegen die Ukraine, folgte am 24. 02. 2022 gleich einen Tag später und überzög, das gesamte ukrainische Staatsgebiet mit Terror. 


Diese Thematik wird in einem der nächsten Beiträge genau erläutert und detailliert erklärt. Warum es keine „Separatisten“ in der Ukraine gibt und warum es kein „Bürgerkrieg“ gewesen ist. 







https://academia.edu/resource/work/102690470






Der Aufsatz, den Putin im Vorfeld seines Angriffs auf die Ukraine zur Geschichte des Landes veröffentlichte,' hat zwei Dinge besonders deutlich gemacht: 


1.wie wichtig Geschichtspolitik generell für die Legitimation seiner aggressiven Außenpolitik ist, 


2.dass die Ukraine nicht nur als selbstständiger Nationalstaat für die Wiedererrichtung eines von Moskau kontrollierten Imperiums hinderlich ist, sondern auch von Putin als Bedrohung für seine eigene Macht gesehen wird.





Eine Schlüsselrolle im ideologischen Kampf gegen die Idee eines ukrainischen Nationalstaats kommt der Ostukraine und ihrer russischsprachigen Bevölkerung zu. 


Die Propagierung einer eigenständigen regionalen Identität dient als anti-ukrainisches Narrativ, das zunächst die nationalstaatliche Geschichtspolitik Kyivs zerstören und im zweiten Schritt die Integration der gesamten Ukraine in ein russländisches Geschichtskonzept vorbereiten soll. 


Vor dem Hintergrund dieses größeren Kontextes ist es daher lohnend, die Geschichtspolitik in den beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk etwas genauer zu betrachten und nach historischen Bezugsgrößen zu fragen, die zur Schaffung einer regionalen prorussischen Identität förderlich sein könnten.


Es ist diese Region, in der nicht nur militärisch gekämpft wird, sondern auch die Frontlinie der Auseinandersetzung um die Erinnerung verläuft, die etwa seit der Jahrtausendwende in Osteuropa zwischen Russland auf der einen und Ostmitteleuropa auf der anderen Seite ausgetragen wird. 


Auslöser ist die ostmitteleuropäische Sicht, den Sieg des Stalinismus in Ostmitteleuropa als zweite Okkupation zu betrachten und mit der nationalsozialistischen Herrschaft gleichzusetzen, was in Russland als „Falsifizierung“ der Geschichte betrachtet wird, da hier der Sieg der Sowjetunion auch weiterhin als antifaschistischer Befreiungskampf bewertet wird. 


Der Ukraine und insbesondere der Ostukraine kommt in diesem Kampf eine Schlüsselrolle zu, da sich hier beide Erzählungen überlappen.


In der Geschichte der Ostukraine sind verschiedene historische Bezugsgrößen auszumachen, die das Regionalbewusstsein wohl gefördert haben. Darunter sind in historischer Reihenfolge vor allem die Herrschaft der Zaporoger Kosaken, Neurussland, die Machnovsjina und die Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog zu nennen, von denen vor allem Neurussland nicht zuletzt schon wegen des im Namen erkennbaren prorussischen Bezugs eine besondere Rolle spielt.


Zur Beurteilung des Konzepts Neurussland wird in diesem Beitrag die seit 2014 herausgegebene gleichnamige Zeitschrift genauer betrachtet. Zur Analyse der unterschiedlichen Gewichtung und Darstellung der genannten vier historischen Herrschaftsformen wird ein Blick in zwei historische Lehrbücher der Donezker Universität von 2018 geworfen. 


Es ist bemerkenswert, dass etwa zwei Drittel der Dozenten 2014 das Historische Institut der Universität Donezk verlassen haben. Nach deren Fortgang kam es zur prorussischen Umgestaltung des Profils des Historischen Instituts, wie die Präsentation des Dekans auf dem Petersburger Historischen Forum 2022 verdeutlicht.


Zaporoger Kosaken


Eine mögliche, aber zugleich auch ambivalente historische Referenz für eine ostukrainische Identitätsbildung stellen die Zaporoger Kosaken dar. Es handelt sich dabei um eine Kriegergesellschaft in der Frühen Neuzeit, die sich am unteren Dnepr aus polnisch-litauischer Sicht „hinter den Stromschnellen“ („za porog) in einem größeren Gebiet ansiedelte, das auch als Wilde Steppe oder wildes Feld (dikoe pole) bekannt ist. 


Die Menschen kamen in dieses weitgehend herrschaftslose Gebiet, um den feudalen Strukturen Polen-Litauens oder Moskaus/Russlands zu entfliehen, und boten ihre militärischen Dienstleistungen als Kosaken wechselnden Auftraggebern an.


Geschichtspolitisch konkurrieren zwei gegenläufige Narrative zwischen der Ukraine und Russland, ähnlich den Vereinnahmungsversuchen der Kyiver Rus durch Kyjiv und Moskau. 


Aus ukrainischer Sicht repräsentieren die Zaporoger Kosaken idealtypisch die Idee ukrainischer Unabhängigkeit zwischen Polen-Litauen und Russland und die damit verbundene Herrschaft des Hetmanats als Keimzelle ukrainischer Staatlichkeit. 


Aus russischer Sicht handelte es sich um ostslawische Kämpfer, die sich von der polnisch-litauischen Unterdrückung befreit, das Bündnis mit Moskau gesucht und somit zurück zur ostslawischen Gemeinschaft unter Moskaus Führung gefunden hätten. 


Der Konflikt wird noch dadurch verschärft, dass Kosaken selbst unterschiedlich gesehen werden, entweder als freiheitsliebende Kämpfer oder als russlandtreue Patrioten.


Da Zaporoger Kosaken im ukrainischen Geschichtsbewusstsein eine sehr prominente Rolle spielen, fällt im Kontrast dazu auf, dass ihnen in der Geschichtsdarstellung der Donezker Universität nicht einmal ein eigenes Unter-kapitel gewidmet ist. 


Ihre Herrschaft wird als chaotisch dargestellt, die der Errettung durch die russische Zivilisation bedurft habe. Etwas neutraler, allerdings mit einem Schwerpunkt auf die benachbarten Donkosaken und deren vermeintlich prorussischen Orientierung ist in dem kürzeren Lehrbuch mit geringerer Auflage der Universität Donezk von der frühneuzeitlichen Kosakenherrschaft in der Ostukraine zu lesen.


Dass Kosaken generell auch von der prorussischen Seite als historische Referenz in Anspruch genommen werden, zeigt der hohe Anteil von Kosakenregimentern aufseiten der „Separatisten“ ab 2014.


Der Kampf um die Deutungshoheit der Kosakentradition in der Ostukraine ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, da er symbolisch für den allgemeineren Konflikt um das Motiv des Freiheitskampfes gegen Fremdbestimmung ist.


So wie aus ukrainischer Sicht die ukrainische Nation sich aus der russischen (auch der polnischen) Unterdrückung befreit hat, so handelte es sich dabei - nicht zuletzt unmittelbar nach dem Maidan - in der ostukrainischen Erzählung um einen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung der Putschisten und Geschichtsumdeuter aus Kyjiv. 


Aus dieser Perspektive erschien Russland wiederum als Befreier, frei nach der Devise: Der Unterdrücker meines Unterdrückers ist mein Befreier.


„Neurussland“


Weniger ambivalent als das Kosakenmotiv, zugleich eindeutiger auf Russland bezogen und daher aus russischer Sicht geeigneter für die Stärkung eines ostukrainischen Regionalbewusstseins ist das Konzept Neurussland. 


Der Begriff bezeichnet ost- und südukrainische Gebiete, die im späten 18. Jahrhundert Teil des Russischen Reiches wurden und in denen es zu einer Reihe von Städtegründungen, darunter u.a. Odessa, Cherson, Mariupol, und Besiedlungsprojekten unter Katharina II. kam.


Wegen seines klar prorussisch-imperialen Charakters benutzte Putin den Begriff zur Destabilisierung der Ukraine bereits im Frühahr 2014. 


Sofort nahmen die beiden gerade erst gegründeten Volksrepubliken Donezk und Lugansk das Konzept auf und gründeten am 24. Mai 2014 unter Führung der „Separatisten“-Aktivisten Pavel Gubarev und Oleg Carev eine Konföderation „Neurussland," deren Flagge von einer Kriegsfahne der zaristischen Marine inspiriert ist, die aber wohl nicht zufallig zugleich der Konföderierten-Flagge im Bürgerkrieg der USA sehr ähnelt. 


Seither existiert auch eine Zeitschrift gleichen Namens, die die neoimperiale Perspektive propagiert. In der Eigenpräsentation auf der Homepage werden als „Hauptziel die schnellstmögliche Eineliederung des Donbass und Neurusslands in die rusländische Föderation" sowie die endgültige Zerstöruns des Projekts der „Bandera-Ukraine" unmissverständlich formuliert. 


Neben der lokalen Aktivisten beteiligten sich am Neurusslanddiskurs auch russische Nationalisten, nicht zuletzt Mitglieder des 2012 gegründeten ultranationalstischen Izbursk-Klubs.


Dass die Sprengkraft der Idee Neurussland weit über den lokalen Raum in der Ostukraine hinausgeht, ist an der intensiven Beteiligung russischer Nationalisten an der Debatte erkennbar. 


So schrieb 2014 der bekannte nationalistische Intellektuelle Aleksandr Dugin über den berüchtigten Kämpfer Igor Strelkov (Girkin): »Strelkov« - er ist nicht das russische Militär. Er ist ein Schatten der russischen Vergangenheit, er ist ein Vorbote der russischen Zukunft. Er ist das, was in der Gegenwart fehlt. Strelkov ist berufen worden zum Dienst für die russische Welt, das russische Volk, die russische Zivilisation.



https://discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/10145765/




Dr. Jakob Hauter, hat eine digitale Open-Source-Untersuchung darüber geschrieben, wie ein Krieg beginnt: Der ukrainische Donbas im Jahr 2014 



https://filer1.filehorst.de/db98560ee8eda4751e53d05a03b3016c?st=l9OfccRZEyqNbIYm_xBcUQ&filename=Jakob-Hauter-PhD-Thesis-Final%20de%20Hinweis.pdf&e=1685752788&dlcode=edCfoGEA


Die deutsche Fassung, gibt es hier zu lesen!




Darüber hinaus richtete Dugin eine eigene Internetseite Novorossija.su ein, auf der er dafür plädierte, die Idee Neurussland und die bis dahin konkurrierenden rechten Konzepte Eurasien und russische Welt (russkij mir) miteinander zu versöhnen. 


Zudem machte Dugin Neurussland auch für neonationalistische Kräfte des „russischen Frühlings" anschlussfähig, indem er bewusst die Doppeldeutigkeit des Begriffs Neurussland herausstellte - die geografisch-historische Dimension, bezogen auf das Gebiet der Ostukraine, sowie die ideelle Komponente im Sinne der Erneuerung Russlands.


Auch der lokale Aktivist Pavel Gubarev sieht im Konzept Neurussland

Potenzial, das weit über den regionalen ostukrainischen Rahmen hinausgeht und zur Erneuerung eines russischen Nationalismus beitragen kann: „Wir haben in unseren Reihen sowohl Sozialisten, Stalinisten, Konservative, Monarchisten, Nationalisten, russische Imperialisten als auch sogenannte sowjetische Imperia-listen. 


Also entsteht in Neurussland tatsächlich eine neue Ideologie. Ich nenne sie die Herrschaft des Volkes. Es gibt drei vereinigende Prinzipien. Wenn man diejenigen zusammennimmt, die gegenwärtig Neurussland verteidigen, dann kann man mit Bestimmtheit sagen, dass sie alle für die russische Welt russkij mir, die Orthodoxie und traditionelle Werte einstehen. 


Es gibt drei Grund-werte: „die russische Welt, die Volksherrschaft, soziale Gerechtigkeit - das ist es, was diese Leute vereinigt." 


Die Kombination aus traditionellen Werten, einer konservativen Haltung und Sowietnostalgie erlaubt es im regionalen Kontext des Donbass, auch kapitalistische Anführer wie Rinat Achmetov als Gegner zu identifizieren und somit das Konzept Neurussland zu einem linken Proiekt zu erklären.


Da Neurussland politisch anschlussfähig für rechte und linke Strömungen ist, wird es im Lehrbuch der Universität Donezk auch in ethnischer Hinsicht bewusst als multiethnisch dargestellt - mit deutschen, serbischen, bulgarischen und griechischen Kolonialisten. 


Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Zugehörigkeit zum russländischen Imperium sowie der regionalen Anbindung an das Gebiet Neurussland und ist somit paradigmatisch für das heutige regionale Selbstverständnis der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und ihr Verhältnis zu Russland.


Doch wurde das Projekt nach dem zweiten Minsker Abkommen im Frühjahr

2015 fallen gelassen. Auch das private Museum Neurussland in St. Petersburg wurde geschlossen. Ebenso fällt auf, dass ein entsprechendes Kapitel in dem auflagenstärkeren Lehrbuch von 2018 fehlt. 


Stattdessen entwickelte der „Separatistenführer“ der Volksrepublik Donezk, Aleksandr Zachardenko, 2017 die Idee, einen neuen gesamtukrainischen Staat „Kleinrussland" mit Donezk als Hauptstadt und den zwei Amtssprachen Kleinrussisch (Ukrainisch) und Russisch zu gründen, wobei der Begriff Kleinrussland zur Bezeichnung der Ukraine wie schon Neurussland eine in die zaristisch-imperiale Epoche zurückreichende Tradition besitzt.


Erst durch den Angriff im Februar 2022 und die offizielle Inkorporation der vier Gouvernements Cherson, Zaporoîe, Donezk und Lugansk im September 2022 trat die neoimperiale Stoßrichtung der russischen Außenpolitik in dieser Region wieder deutlich zutage.


Machnovscina


Auch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts lassen sich Herrschaftsepisoden in der Ostukraine finden, die sich für die Schaffung eines regionalen Bewusstseins eignen. 


Ein schillerndes Beispiel stellt die sogenannte Machnovscina dar, also die Herrschaft des Anarchisten Nestor Machno in der Ostukraine von 1918-1921, die sich ausgehend von seinem Heimatort Gulaj Pole im heutigen Oblast Zaporoîe nicht weit vom Gebiet der Volksrepublik Donezk in wechselnder Ausdehnung auf Gebiete der Ostukraine erstreckte. 


Da es sich allerdings um eine größtenteils ukrainischsprachige Bewegung handelte, die sich noch dazu gegen die moskauzentrierten Bewegungen der Bolschewisten und deren weiße Gegner unter Anton Denikin in besonderer Weise zur Wehr setzte und den Namen „Ukraine" zur Betitelung ihrer kämpfenden Einheiten benutzte, eignet sich dieses historische Kapitel ostukrainischer Regionalgeschichte denkbar schlecht für eine neoimperiale Vereinnahmung aus russländischer Sicht. 


So findet die Machno-Bewegung auch kaum Erwähnung im aktuellen Geschichtslehrbuch der Universität Donezk. Und dort, wo dies geschieht, werden die Kämpfer, wie schon die Zaporoger Kosaken, als chaotische Plünderer dargestellt, nach deren Herrschaft die ordnende Hand Russlands bzw. der sowjetrussischen Macht „notwendig“ gewesen sei. 


Auch im kürzeren Lehrbuch wird Machno und seiner Bewegung wenig Platz eingeräumt und zusätzlich darauf verwiesen, dass er und nicht etwa die Bolschewisten - die Zusammenarbeit gekündigt habe und somit selbst die Schuld an der Verfolgung seiner Person durch die Sowjets trage.


Auf den eher ukrainischen Bezugsrahmen verwies nicht zuletzt die Uniformierung der Kämpfer, die offensichtlich eine Traditionslinie zu den Zaporoger Kosaken und deren Freiheitsmotiv herstellte. Auch die Publikation einer ukrainischsprachigen  Zeitung - „Weg zur Freiheit" („Sljach do voli*) - der Bewegung deutet in diese Richtung. 


Allerdings kämpften die mitunter mit den Bolschewisten kooperierenden Anarchisten zunächst primär gegen den mit den Mittelmächten verbündeten Pavel Skoropadskij und später auch gegen die Soldaten Symon Petjuras, die für einen ukrainischen Nationalstaat eintraten, sodass Machnos Bewegung auch aus Kyiver Perspektive durchaus irrige Ziele verfolgte und somit umso mehr für einen regionalen „Separatismus“ steht, der allerdings anders als die Volksrepubliken Donezk und Luhansk nicht von Moskau aus kontrolliert wird.


Außerdem ist die anarchistische Bewegung Machnos aus heutiger russischer Sicht viel zu revolutionär, als dass sie zur aktuellen Geschichtspolitik Moskaus passen würde. 


Entsprechend ist in der Zeitung „Novorossija" mit Blick auf die Revolution von 1917 vom „leninistisch-trozkistischen Maidan" (Oktoberrevolution) oder vom ,Verrat von 1917" (Februarrevolution) die Rede. 


Donecko-Krivorozskaja Respublika (DKR)


Ist also der regionale Anarchismus Machnos kaum integrierbar, so gibt es eine andere - im Westen wenig bekannte - Episode der Revolution und des „Bürgerkriegs“ in der Region, die neben dem Konzept Neurussland trotz ihres revolutionären Charakters geeignet zur Schaffung eines moskautreuen Regionalpatriotismus sein könnte: die Anfang 1918 unter Führung von Fedor Sergeev (Artem) gegründete Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog im Südosten der heutigen Ukraine.


Sie wird als geradezu idealtypischer Vorläufer der heutigen Volksrepublik dargestellt, da sie sich ausdrücklich gegen die projektierte ukrainische Sowjetrepublik mit der Hauptstadt Kyjiv und gegen die deutsch kontrollierte Ukraine richtete. 

Allerdings wurde sie auf Betreiben Lenins schon im März 1918 zugunsten einer gesamtukrainischen Sowjetrepublik wieder aufgelöst.


Aufgrund dieser Konstellation eignete sich diese kurze Episode jedoch als identitätsstiftender Referenzpunkt für die Ostukraine bereits vor dem Ausbruch der offenen Gewalt 2014 und wurde schon zuvor in Publikationen Oles' Buzins und Vladimir Kornilovs propagiert.


Seit 2015, also seit der Auflösung Neurusslands als Vereinigung der beiden Volksrepubliken, begeht die politische Führung der Volksrepublik Donezk am 12. Februar den Gründungstag der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog mit offiziellen Gedenkveranstaltungen.


Außerdem verabschiedete die Volksrepublik Donezk im selben Jahr ein Memorandum zur Gründung des Staates und seines historischen Erbes, das ausdrücklich die Sowjetrepublik als Vorläuferin der Volksrepublik bezeichnet.


Einen Höhepunkt erreichten die Festlichkeiten zum 100. Jahrestag der Republikgründung 2018.


Auch die Lehrbücher von 2018 widmen dieser Sowjetrepublik anders als den Zaporoger Kosaken, Neurussland oder der Machnovscina ungeachtet der sehr kurzen Existenz eigene Unterkapitel.


Die Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog eignet sich als Referenzpunkt für die heutigen Volksrepubliken auch deshalb nicht, da der territoriale Rahmen sich auch auf das heute russische Gebiet Rostov na Don erstreckte und somit die russländische/anti-ukrainische Dimension zusätzlich unterstreicht.


Zudem ging das beanspruchte Territorium auch innerhalb der ukrainischen Gebiete deutlich über das der Volksrepublik Donezk hinaus. Beispielsweise war zunächst Char'kov die Hauptstadt, sodass auch in dieser Hinsicht der expansionistische Charakter des Projekts gegenüber dem ukrainischen Staat deutlich wird und auch in dieser Funktion in der Tradition des Projekts Neurussland steht.


Nicht zu unterschätzen ist auch die sozialistische Komponente der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog, die sich mit der allgemeinen Sowjetnostalgie und dem regionalen Arbeiterethos des Industriegebietes Donbass gut vereinbaren lässt und somit das Widerstandspotenzial gegen den westlichen Kapitalismus, der vermeintlich in Kyjiv Einzug gehalten hat, zusätzlich erhöht.» Diese antiwestliche Stoßrichtung der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog hat auf der 100-Jahrfeier 2018 auch der „Separatistenführer“ Aleksandr Zacharcenko in seiner Ansprache hervorgehoben: 


„Liebe Landsleute! Ich beglückwünsche Euch zum Jahrestag der Gründung der Republik Donezk-Krivoj Rog. Genau vor 100 Jahren sagten unsere Vorfahren ‚Ja zu Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit und ,nein' zum Westen. Nach vielen Jahren übernehmen wir Nachkommen ihre Losungen und Ideen. Alles, was wir heute gestalten, machen wir für unsere Zukunft, wir errichten einen gerechten Staat. Aber im Unterschied zu unseren Vorfahren werden wir nicht verlieren, sondern uns wird alles gelingen!"


Allerdings sollte Zachardenko selbst nicht mehr viel gelingen. Wenige Monate nach seiner Rede wurde er Opfer eines Anschlags.


Fazit


Obwohl alle vier genannten historischen Bezüge geeignet waren, ein regionales ostukrainisches Geschichtsbewusstsein zu stärken, werden die Zaporoger Kosaken als „zu ukrainisch" empfunden und passen somit nicht zum Zeitgeist der Volksrepubliken. 


Auch die Machnovscina ist zu autark und historisch komplex, als dass sie in ein prorussisches Narrativ integriert werden könnte. Umso stärker eignen sich jedoch Neurussland und die Sowjetrepublik Donezk-Krivoi Rog als Bezugspunkte für eine Identitätsbildung. 


So weist der Dekan des Historischen Instituts der Universität Donezk ausdrücklich darauf hin, dass man seit 2014 zwei neue Schwerpunkte erarbeitet habe: „die Geschichte Neurusslands" und „die Geschichte des Donbass während des Großen Vaterländischen Krieges". 


Darüber hinaus lasse man besondere Aufmerksamkeit der Erforschung der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog zuteilwerden, „als Muster für die Gründung der Donezker Volksrepublik".


Die Kombination der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog mit dem Konzept Neurussland als historische Referenz ermöglicht eine politische Hybridität, die die historische Spaltung des „Bürgerkrieges“ zwischen Rot und Weiß im Osten der Ukraine überwindet und unter dem Dach eines neuen russländischen Patriotismus verbindet.


Zugleich vereint diese Kombination den sowjetischen Internationalismus mit dem multiethnischen Imperium, was ebenfalls für die Volksrepubliken von zentraler Bedeutung beim Kampf gegen den „faschistischen" Nationalismus Kyjivs ist. 


Diese Symbiose geht sogar noch über den lokalen Rahmen der Ostukraine hinaus, da auch der moderne russische Nationalismus stolz darauf ist, unter dem Dach der russkiji mir verschiedene Ethnien zu akzeptieren.


Aleksandr Voronovic weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der multiethnische Nationalismus ein Phänomen ist, das schon in anderen „prorussischen Separatistengebieten“ erprobt sei, so vor allem in Transnistrien, und spricht in diesem Kontext von internationalem „Separatismus“,

wobei es doch treffender  wäre, diesen als russländischen Separatismus zu bezeichnen." 


Zentral in diesem Zusammenhang ist die Fokussierung auf den Begriff des Volkes (narod) anstelle der Nation. Das multiethnische „Volkstum" wird positiv konnotiert und dem monoethnischen „faschistischen" Nationalismus der Ukraine gegenübergestellt. So findet sich in einer Handreichung für Lehrkräfte an Schulen der Volksrepublik Donezk von 2017 folgende Definition der russkji mir: „Russkij mir - das ist die Gemeinschaft von Menschen, die unabhängig von ihrer Nationalität sich als Russen fühlen, Träger der russischen Kultur und der russischen Sprache und geistig mit Russland verbunden sind und sich nicht gleichgültig gegenüber seinem Schicksal verhalten. 


Nicht von ungefähr ist aus der multiethnischen Sowjetrepublik von 1918 eine multiethnisch-russländische Volksrepublik von 2018 geworden.


Auch der „Russische Frühling" im Donbass 2014 wird als Volksbewegung dargestellt, die im klaren Kontrast zum Euro-maidan stehe, der ein von außen - von Amerika - gesteuerter Umsturzversuch

gewesen sei. 


Die solcherart vollzogene Integration der Geschichtspolitik der Volksrepubliken Donezk und Lugansk in den russländischen Kontext ist neben den dargestellten regionalen historischen Bezügen darüber hinaus natürlich auch an der Omnipräsenz des Großen Vaterländischen Krieges ablesbar, wie die Festlichkeiten am 9. Mai oder das massive Auftreten des Georgsbands - des russisch/sowjetischen miltärischen Abzeichens - in der Öffentlichkeit deutlich machen.


Eine lokale Besonderheit dieser „Pobedonosie" - der Siegeshysterie - liegt in dem starken Gegenwartsbezug und der Gleichsetzung des Sieges gegen die Faschisten des Deutschen Reiches mit dem Sieg bzw. Kampf gegen die „Faschisten“ Kyjivs, z. B. durch das Tragen von Porträts verstorbener Kämpfer der Volksrepubliken beim Unsterblichen Regiment - einem Gedächtnismarsch für gefallene Rotarmisten.


Nicht nur den Kriegshandlungen kommt in diesem Narrativ eine globales Gewicht zu, sondern auch der intellektuellen Interpretation der historisch vermeintlich unbedeutenden Episoden Neurusslands und der Sowjetrepublik Donezk-Krivoj Rog. 


Sie bergen eine ideologische Sprengkraft, die weit über den lokalen Rahmen hinausgeht. Mutmaßlich wegen der hybriden Anschlussfähigkeit nach rechts und links besitzen die lokalen Geschichtsdeutungen im Donbass eine große Ausstrahlung ins Innere Russlands, aber auch auf internationaler Ebene.

Kommentare

Beliebt

Stepan Banderas Zeit in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern

Warum hat Putin Angst vor dem Mythos Stepan Bandera?

Russlands Krieg in der Ukraine 🇺🇦: Auslöser ein uralter Minderwertigkeitskomplex?!

Wie der negative Einfluss und Pazifismus sogenannter „Friedenstauben“ den Vernichtungskrieg RU 🇷🇺 gegen die UA 🇺🇦 verlängert

Warum es von Bedeutung ist, alle Gebiete der Ukraine 🇺🇦 zu befreien