Vier Gründe, warum wir über eine Flugverbotszone in der Ukraine reden sollten
Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI)
Montag, 24.07.2023
https://academia.edu/resource/work/104983943

Viele Beobachter sehen in der Einführung von westlich unterstützten Flugverbotszonen in der Ukraine einen direkten Weg in den Dritten Weltkrieg. Doch so einfach ist es nicht, sagt der deutsche Kriegs-Analyst Andreas Umland, der sich gerade in der Ukraine aufhält.
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat zunehmend über Osteuropa hinaus - politische, wirtschaftliche, soziale, völkerrechtliche und humanitäre Auswirkungen. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die früheste und dringlichste ukrainische Bitte um direkte militärische Unterstützung durch den Westen nochmals zu überdenken.
Kurz nach Beginn der russischen Großinvasion am 24. Februar 2022 startete Kyiv eine internationale Kampagne für eine Flugverbotszone über der Ukraine. Obwohl die Nato und ihre Mitgliedstaaten den ukrainischen Wunsch nachvollziehen konnten, lehnten sie den Vorschlag Kyivs als zu riskanten Schritt ab.
Selbst eine teilweise Erfüllung der ukrainischen Forderung wurde von den westlichen Staaten als nicht im nationalen Interesse angesehen. Dieses schematische Denken war bereits 2022 fragwürdig. Im Jahr 2023 ist noch kritikwürdiger geworden.
Flugverbotszone ist nicht nur eine Frage der Solidarität mit der Ukraine
Ein militärisches Engagement im ukrainischen Hinterland mit Kampfflugzeugen und Flugabwehrwaffen durch westliche und andere interessierte Staaten würde nicht nur einen ukrainischen Hilferuf beantworten. Russlands Krieg gegen die ukrainische Regierung, Wirtschaft und Bevölkerung berührt Kerninteressen vieler Staaten außerhalb Osteuropas.
Und zwar in mindestens vierfacher Hinsicht:
Erstens ist die Fähigkeit der Ukraine, weiterhin Nahrungsmittel und insbesondere Getreide zu ernten und zu exportieren, nicht nur eine humanitäre und ökonomische Frage. Sie ist auch eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung weltweiter Sicherheit und Stabilität.
Eine Verknappung und ein erneuter Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Brot wird schwerwiegende internationale soziale und politische Auswirkungen haben. Dazu gehören instabile Regierungen, bewaffnete Aufstände, Migrationsströme, Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und womöglich gar Bürger- oder zwischenstaatliche Kriege.
Der Einsatz westlicher und nicht-westlicher Luftstreit- und Luftabwehrkräfte zur Unterstützung der Ukraine bei der Sicherung ihrer Nahrungsmittelproduktion und -beförderung ist daher nicht nur eine Frage der Solidarität. Ein solcher militärischer Einsatz von Nato- und Nicht-Nato-Staaten wäre durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, allgemeine Risiken für die internationale Sicherheit zu minimieren.
Die Verhinderung von Hunger und seiner zerstörerischen Folgen für die globale Ordnung ist Grund genug, die Einrichtung von Flugverbotszonen über und um die Ukraine in Betracht zu ziehen. Solche Maßnahmen ließen sich mit nichtukrainischen nationalen und transnationalen Interessen rechtfertigen, ohne dass der Wunsch Kiew nach ihnen erwähnt werden müsste.
Sicherheit des radioaktiven Materials und der Atommeiler der Ukraine
https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Saporischschja
Zweitens sind die ukrainischen Kernkraftwerke - einschließlich des stillgelegten AKWs Tschernobyl - während des Krieges wiederholt zu Schauplätzen, Instrumenten und Zielen russischer militärischer Aktivitäten geworden. Die von einem solchen Verhalten ausgehenden grenzüberschreitenden Risiken für die Gesundheit nicht nur von Millionen Ukrainern, sondern auch von Bürgern vieler Nato-Mitgliedstaaten sind offensichtlich.
Als die Ukraine 2022 um eine Flugverbotszone bat, überraschte es, dass das hohe nationale Interesse europäischer Länder an der Sicherheit des radioaktiven Materials und der Atommeiler der Ukraine in den meisten Debatten unter dem Radarschirm blieb.
Heute ist es für die Nato und ihre Regierungen höchste Zeit, sich direkt für den Schutz ihrer Bürger vor einer Wiederholung von Folgen der Tschernobyl-Katastrophe 1986 einzusetzen. Wie bei der Ermöglichung einer stabilen ukrainischen Nahrungsmittelproduktion und -lieferung kann auch hier das Interesse der Ukraine am Schutz ihrer Kernkraftwerke im Hintergrund bleiben.
Es braucht nicht den Wunsch Kyivs nach einer Flugverbotszone zur Rechtfertigung eines militärischen Engagements der Nato und anderer Verbündeter im ukrainischen Luftraum zur Sicherung von Atommeilern.
Tausende Bürger aus Nato- und Nicht-Nato-Ländern in Kyiv
Drittens ist die Stadt Kiew seit spätestens Oktober 2022 eines von vielen beliebten Zielen russischer Raketen- und Drohnenangriffe (wie ich mehrfach vor Ort beobachten konnte). Ob beabsichtigt oder nicht, haben russische Raketen und Drohnen wiederholt zivile Infrastrukturen getroffen und Nichtkombattanten getötet. Häufig werden Häuser beschädigt oder Kiewer Bürger durch herabfallende Trümmer abgefangener russischer Raketen und Drohnen sowie ukrainischer Flugabwehrmunition verwundet.
In Kyiv befinden sich Dutzende von ausländischen Botschaften und Konsulaten sowie Büros zahlreicher westlicher und nicht-westlicher Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Seltsamerweise hängt die Sicherheit von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Bürgern aus Nato- und Nicht-Nato-Ländern in Kyiv vollständig vom ukrainischen Eisendom über der Hauptstadt ab.
Zahlreiche Diplomaten und andere Regierungsbeamte, die sich ständig oder vorübergehend in Kyiv aufhalten, vertreten offiziell Länder mit hochmodernen Luftstreit- und Luftabwehrkräften. Dennoch können diese entsandten Beamten sowie andere ausländische Steuerzahler bisher weder auf dem Weg nach Kyiv noch innerhalb der Stadt auf den Schutz durch Jagdflugzeuge und Luftabwehrwaffen ihrer eigenen Länder zählen. Und das trotz der ausdrücklichen Bitte der ukrainischen Regierung eben hierum.
Die Frage des Schutzes der international finanzierten zivilen Infrastruktur
Nicht zuletzt beginnt, viertens , derzeit der ukrainische Wiederaufbau sowie die Modernisierung und Europäisierung des Landes. Dazu gehören mehr und mehr westliche und nicht-westliche öffentliche ausländische Investitionen im Land.
Wenn Milliarden von Euro und Dollar an Steuergeldern in die Entminung, Instandsetzung und Erneuerung der Ukraine fließen, steigt das nationale Interesse westlicher und einiger nicht-westlicher Länder an grundlegender Sicherheit in der Ukraine.
Bei Fortsetzung der russischen Terrorangriffe in der Ukraine mit Langstreckenraketen und -drohnen wird die Frage des Schutzes der international finanzierten zivilen Infrastruktur immer dringlicher. Westliche Regierungen und Bürger sollten daran interessiert sein, dass die von ihnen finanzierten Hilfs- und Investitionsprojekte eine nachhaltige Wirkung haben und nicht durch russische Bomben und Sprengköpfe neutralisiert werden.
Zudem sind private Direktinvestitionen bereits heute ein Faktor, der der ukrainischen Wirtschaft bei ihrer Erholung hilft. Trotz komplizierter Versicherungsfragen werden sie von vielen westlichen Beamten als wichtiges Element für den künftigen Aufschwung der Ukraine angesehen. Vor allem bei großen Büro- oder Fabrikgebäuden, die mit Hilfe ausländischer Unternehmen errichtet oder renoviert wurden, stellt sich die Frage nach deren Schutz vor russischen Luftangriffen.
Die Regierungen der Länder, in denen sich die Sitze von in der Ukraine investierenden Unternehmen und deren Versicherer befinden, werden zunehmend unter Druck geraten, der Ukraine zu helfen ausländische Direktinvestitionen zu sichern.
Flugverbotszonen führen uns nicht „direkt in den Dritten Weltkrieg“
Viele Beobachter sehen in der Einführung von westlich unterstützten Flugverbotszonen selbst über dem ukrainischen Hinterland als einen direkten Weg in den Dritten Weltkrieg. Es ist jedoch nicht klar, ob es tatsächlich zu einer solchen Eskalation kommen würde, solange westliche Truppen nicht an der Frontlinie eingesetzt werden.
Russland setzt bei seinen tiefen Angriffen im Luftraum des ukrainischen Hinterlandes keine bemannten Kampfflugzeuge ein. Die russischen Terrorangriffe auf Städte und andere Siedlungen der Ukraine erfolgen fast ausschließlich mit Hilfe verschiedener Arten von unbemannten Raketen und Drohnen.
Wenn westliche Kampfflugzeuge und Flugabwehrraketen russische Flugobjekte treffen, würden sie keine russischen Soldaten töten. Als die türkische Luftwaffe 2015 ein russisches Kampfflugzeug über Syrien abschoss und der Pilot getötet wurde, reagierte Russland mit vorübergehenden Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Putin nahm bald darauf seine freundschaftlichen Beziehungen zu Erdogan wieder auf – so als ob nichts geschehen wäre.
Eine neue diplomatische und öffentliche Diskussion über die alte Forderung der Ukraine nach einer vom Westen unterstützten Flugverbotszone ist notwendig. Sie muss auf rationale Weise die Vorteile, Risiken und Kosten der Umsetzung dieser oder jener Variante dieser Idee abwägen. Eine umfassende und nüchterne Bewertung dessen, was im Hinblick auf die eigenen nationalen Interessen der westlichen Länder mit der Einrichtung von Flugverbotszonen über und um die Ukraine gewonnen und verloren werden kann, sollte das weitere Vorgehen bestimmen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen