Ukrainische Geschichte unter Beschuss: Warum Putin Geschichtsfälschung betreibt um diesen erbarmungslosen Angriffskrieg gegen die Ukraine 🇺🇦 zu führen







Ukrainische Geschichte unter Beschuss: Geschichtswissenschaftliche Perspektiven im transepochalen und transosmanischen Zugriff



Stefan Rohdewald



8.7.2023



https://academia.edu/resource/work/104359797





Zusammenfassung:



Geschichtsschreibung und Angriffskrieg


Am 24. Februar 2022 hat Vladimir Putin den seit 2014 andauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine auf ein seit dem Blutvergießen im ehemaligen Jugoslawien in Europa nicht gesehenes Ausmaß an offenkundiger Aggression, Brutalität und Zerstörung massiv eskaliert. 


Seit dem Zweiten Weltkrieg ist in Europa kein vergleichbarer überfallsmäßiger Angriffskrieg eines Staates gegenüber einem Nachbarn erfolgt. Zu den seitens der russischen Führung in den vergangenen Jahren und heute vorgebrachten, fadenscheinigen Beweggründen für das Handeln gegen die Ukraine zählen zahlreiche und widersprüchliche geschichtliche Argumentationen, deren Einordnung und Dekonstruktion noch nicht zur Genüge erfolgt ist. 


Völkerrechtlich sind sie angesichts des von niemandem bestrittenen souveränen Status' des ukrainischen Staates aber von vornherein grundsätzlich und insgesamt belanglos.


Putin möchte, wie in seinen als Geschichtslektionen angelegten Sermonen und als Forschungsbeiträge getarnten Pamphleten ausführlich und immer wieder aufs Neue dargestellt, die Auflösung des Russländischen Imperiums nach 1917 und auch diejenige der Sowjetunion nach Möglichkeit rückgängig machen. 


Im Leipziger Forschungskolloquium der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte des Sommersemesters 2022 kamen unmittelbar vor diesem Hintergrund und anlässlich der traumatisierenden Ereignisse Historikerinnen und Historiker zu Wort, die sich in ihren Vorträgen und nun den im vorliegenden Band erstellten Beiträgen um eine Heranführung auch des studentischen Publikums an ukrainische Geschichte im übergreifenden Kontext bemühten. 


Ausgehend von der Gegenwart wird hier Schritt für Schritt der Blick in weiter zurückliegende Jahrhunderte gelenkt, deren Geschichte zur Vertiefung des Verständnisses der heutigen historischen Rückbezüge erforderlich sind.


Klar im Auge zu behalten und allem vorauszuschicken ist dabei das Offensichtliche, das Putin mit den unterschiedlichen Narrativen verdecken möchte: 


https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_der_Vereinten_Nationen




Ein Angriffskrieg ist gemäß geltendem internationalem Recht ein Kriegsverbrechen. Die Absicht und der Versuch, einen Nachbarstaat gegen dessen Willen aufzulösen, und wenn es im "Blitzkrieg" nicht gelingt, so in mehreren Schritten durch die Annexion einer Provinz nach der anderen, sind grundsätzliches Unrecht. 


In völliger Unabhängigkeit von allen erinnerungskulturellen Befindlichkeiten oder geschichtswissenschaftlichen Befunden gilt: 


Ist ein Staat international anerkannt, so ist er durch die UNO und im europäischen Rahmen zusätzlich durch die Abkommen der OSZE fundamental in seiner territorialen Einheit und Existenz geschützt. Alle prinzipiell dagegen gerichteten Handlungen brechen gegen die bestehende völkerrechtliche Ordnung, die europäische und globale Friedensordnung.


https://www.osce.org/files/f/documents/5/b/39518.pdf


https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Sicherheitscharta


Tatsächlich ist aber gerade der systematische Bruch der geltenden Regeln das Ziel der russischen Regierung: 


Putin möchte explizit zu einer Welt der Großmächte und imperialen Einflusszonen zurückkehren, die anstelle von Völkerrecht relevant sein sollen, wie er nicht nur in seinem Text 2020 anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs ausführlich erklärte.' 


https://amp2.handelsblatt.com/politik/international/rede-zum-9-mai-putin-warnt-vor-weltkrieg-und-behauptet-der-westen-bereite-eine-invasion-vor/28317064.html







Im unvereinbaren Gegensatz hierzu ist und bleibt Russland als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und der OSZE durch die bestehenden Grundakten und Abkommen, wie auch das Budapester Memorandum, zur Achtung internationaler Grenzen im Allgemeinen und insbesondere der territorialen Integrität der Ukraine verpflichtet.


https://de.wikipedia.org/wiki/Budapester_Memorandum






Ein Re-Enactment des Zweiten Weltkriegs


https://de.wikipedia.org/wiki/Reenactment




Der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg steht an erster Stelle der Narrative Putins: tatsächlich erscheint der Angriffskrieg wie ein Reenactment des Zweiten Weltkriegs. 


Tatsächlich wurde nicht erst im Rückblick in den Jahren der Präsidentschaften Putins mit der immer stärkeren Rolle des Gedenkens des ,,Großen Vaterländischen Krieges" (1941-1945), der die Jahre 1939-1941 und damit den von der Sowjetunion maßgeblich mitverursachten Beginn des Zweiten Weltkriegs in der Aufteilung des östlichen Mitteleuropa mit dem Deutschen Reich bewusst ausklammert, die russländische Bevölkerung für einen großen realen Krieg vorbereitet: 


Schon 2010 war die rivalisierende Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg insbesondere im Verhältnis Russlands zu seinen postsowjetischen Nachbarstaaten und insgesamt zu den Staten Ostmitteleuropas soweit eskaliert, dass Forschungsprojekte wie „Memory at War" entworfen und gefördert wurde.? 


Schon seit den frühen 2000ern war die Stärkung des Siegesgedenkens in Russland unverkennbar. Sie erfolgte im Gleichklang mit der wie in der Sowjetunion fortgeführten Ausblendung der Shoa, während sich in der Ukraine das Holocaustgedenken deutlich stärker entfalten konnte und auch staatlich unterstützt wurde. 


Aleksandr Osipian, 2014 aus Kramatorsk nach Leipzig geflohen, brachte im Leipziger Kolloquium die jüngste Zuspitzung zur Sprache, in der sich in einer völlig entgegengesetzten Entwicklung Russland zwischenzeitlich die Rolle des Hüters des Gedenkens der Shoa sowie der Nürnberger Kriegsverbrecher Prozesse anmaßte - obschon in Nürnberg gerade der Angriffskrieg der erste

Anklagepunkt war.


Nationalrussische neoimperiale „Deukrainisierung" Putins ethnonationales und neoimperiales Geschichtsbild hat die vermeintliche Rettung möglichst großer Teile der Welt oder mindestens der imaginierten ,russischen Welt" (,Russkij Mir') im ,nahen Ausland", d.h. den übrigens ehemals sowjetischen Teilrepubliken) vor dem angeblich dekadenten Westen durch eine zu diesem Zweck isoliert konstruierte „russische Zivilisation" zum Ziel. 


„RUSSKIJ MIR“


Er folgt in der Allianz mit Iran und anderen Gegnern der „dekadenten westlichen Eliten" dem Diskurs der zunächst noch radikaler erscheinenden Neo-Eurasier: 


Dugins ,, Einführung in die Geopolitik" ist vom Lehrbuch für die Generalstabsakademie* zum Gemeingut und auch zunächst zum mittelbaren, dann direkten Bestandteil der offiziellen Strategien Russlands geworden. 


Rechtsextreme Diskurse, die seit 1991 zwar wachsende, jedoch bis vor wenigen Jahren für Russland nur eingeschränkte Bedeutung erlangt hatten, sind gegenüber der Ukraine zur Regierungspolitik geworden.


Gerade in den durch Russland seit 2014 informell besetzten Gebieten der Ukraine, den sogenannten Volksrepubliken, waren russische rechtsextreme Gruppierungen maßgeblich aktiv bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der völkerrechtlich illegitimen staatsähnlichen Gewalt beteiligt, denen sich ukrainischerseits teilweise analoge Gruppen als Freikorps entgegenstellten: 




‼️Russischer Rechtsextremismus‼️


Letztere, ukrainische Rechtextreme, wurden international in der Presse jedoch meist ohne gleichzeitigen Blick auf die entscheidende Rolle russischer Rechtsextremer in der Einrichtung der sogenannten Volksrepubliken auf dem Territorium der Ukraine und im Widerspruch zum deutlich differenzierteren Forschungsstand weitaus stärker beobachtet skandalisiert.? 


Umso wichtiger ist der Beitrag von Yaroslav Motenko und Yevhenia Shyshkina, letztere 2022 aus Charkiw nach Leipzig geflohen: 


Beide stellen die Bedeutung russisch-nationalistischer neoimperialer Diskurse vor Ort und in Bezug auf die Regierung der Russländischen Föderation sowie die Legitimierung des Kriegs seit 2014 sowie des Angriffskriegs seit 2022 im Zusammenhang auch neoeurasischer Konzepte dar.


Staatliche Medien und Organe Russlands gaben der Öffentlichkeit die ,, Einrichtung von Organen zur Deukrainisierung über einen Zeitraum von 25 Jahren" zum Zweck der Tilgung ukrainischer Identität und Erinnerung auch in Form von Denkmälern und Schulbüchern sowie ihren Ersatz durch entsprechende russische Inhalte und Medien und sodann deren Propagierung in den „entukrainisierten" Gebieten als Handlungsanleitung vor: 


Ukrainische Staatlichkeit sei vermeintlich untrennbar durch den Nationalsozialismus geprägt und deswegen auszuheben, die unverbesserliche Elite zu töten und der Rest der Bevölkerung umzuerziehen. 




In der Tat weist die Kriegsführung Russlands nicht nur kolonialistisches, sondern genozidales Handeln gegenüber der Zivilbevölkerung auf, das sich in Massakern (dokumentiert in den zurückeroberten Gebieten bei Kyjiw, Charkiw, Cherson), Deportationen von Zivilisten, Filtrationslagern für angebliche kulturelle Multiplikatoren, der Freigabe deportierter Kinder zur Adoption, aber auch in der Zerstörung der kritischen Infrastruktur während des Winters, d.h. der „absichtliche(n) Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen" und in der Vernichtung kultureller Einrichtungen wie Museen und Archiven - bis Ende 2022 ca. 80010 - zeigt. 


Auch aus diesem Grund tut es Not, in transepochaler und überregionaler Perspektive ukrainischer Geschichte Raum zu geben - wie es sich in der Anlage des vorliegenden Bandes spiegelt. 


Jan Schönfelder hat im Kolloquium sein Leipziger Promotionsprojekt zum Holodomor als Genozid vorgestellt und trägt hierüber zum vorliegenden Band bei: trotz des aktuellen Interesses in Deutschland an der künstlichen Hungersnot gab es bisher kaum Beiträge zur Forschung über dieses Thema in Deutschland auf der Grundlage ukrainischer Archivalien.


2021 hatte Putin in einem seiner historisch weit ausschweifenden, vermeintlich geschichtswissenschaftlichen Propagandatexte von dem einen Volk geschrieben, das das russische angeblich mit dem ukrainischen Volk darstelle: 

Ein vom russischen getrenntes, ukrainisches Volk ist folglich inexistent, weil deckungsgleich mit dem russischen. 


Zu der ,,großen russischen Nation, dem dreieinigen Volk“ innerhalb des ,,Russländischen Imperiums" zählt Putin neben den „,Großrussen, Kleinrussen [anstelle von Ukrainern] auch Belorusen [d.h. Belarusen™".| Russland stellt in dieser Selbstdefinition seitens der Präsidentschaft keine politische, überethnische Nation dar, sondern verkörpert das Imperium der „großen" russischen, ethnischen Nation. 


Putin greift damit Diskurse des späten, sich im ausgehenden 19. Jahrhundert nationalisierenden, russifizierenden Russländischen Imperiums auf und überträgt sie auf die heutige, postsowjetische Situation.



Die Ukraine als Anti-Russland?


Die ukrainische Staatlichkeit und Kultur sowie eine von Russland getrennte Nation erscheinen in dieser Logik als undenkbar oder an sich und grundsätzlich „anti-russisch“. 


Tatsächlich wirft Putin in demselben Pamphlet Politikern der Ukraine vor, den ukrainischen Staat als ein „Anti-Russland*-Projekt zu entwerfen, was er niemals akzeptieren werde. Bereits Präsident Kuèma hatte 2004 mit seinem Buch „Die Ukraine ist nicht Russland* versucht, das russische und ukrainische Publikum weiter an eine stabile Zweistaatlichkeit zu gewöhnen. 


Tatsächlich ist der Begriff „Antyrosija" d.h. „Anti-Russland bereits 2000 in einer ukrainischen Analyse von ukrainischen Identitätsentwürfen in westukrainischen Texten der 1930er Jahre aufzufinden, jedoch ohne von der ukrainischen Politik aufgegriffen zu werden.!


Der Begriff „Anti-Russland“ spielte vielmehr zunächst in russischen Medien und Publikationen im Nachklang des russisch-georgischen Krieges als Vorwurf gegenüber Saakashwili eine größere Rolle. 


Der Vorwurf, ukrainische Erinnerungspolitik sei „antirussisch“ bzw. die Gleichung „die Ukraine - ist Anti-Russland“ wurde sowohl ukrainischerseits 2010 als auch russischerseits retrospektiv und kritisch mit der Regierung Juschenko verbunden. 


2012 wurde die Gleichung im antiukrainischen Sinne polemisch erweitert: 




"Anti-Russland - das ist die Ukraine in der NATO" und durch den ukrainischen sozialistischen Parlamentarier Vladimir Marcenko auf der russisch-imperialen Website „regnum* als Vorwurf gegenüber der ukrainischen Sicherheitspolitik seit 2002 verwendet. 


Der Streit darüber wurde damals in russischen und ukrainischen Medien breit aufgegriffen.!? Staatliche Politik, und damit auch die Erinnerungspolitik des Instituts des Nationalen Gedenkens, hat diesen Begriff jedoch nie explizit verwendet. 


Ukrainischsprachige Kritik an einer mechanischen Spiegelung Russlands überwiegt - gerade mit dem Ziel, die russische Zivilgesellschaft in der Russländischen Föderation mit als Publikum zu behalten, was selbstverständlich auch 2022 vertreten wurde.


Innenpolitisch diente der Begriff der an Putin orientierten Partei „,Für das Leben" zum Vorwurf gegenüber der ukrainischen Regierungspolitik.?' Wenn die bulgarische Regierung den makedonischen Staat und die durch seine Elite vertretene Geschichte 2022 als ,,anti-bulgarisch" definierte, ist dies nicht nur, aber heute gerade auch in diesem Zusammenhang zu sehen.


Allerdings wird der Begriff „Anty-Rosija" seit 2014 als Ergebnis der Aktionen

Russlands gegen die Ukraine in ukrainischen Diskursen intensiver debattiert und nun auch zuweilen in trotziger Übernahme des russischen Vorwurfs affirmativ unterstützt. 


In diesem Zusammenhang steht er dann meist für den Gegensatz ukrainischer Demokratie und Rechtstaatlichkeit vs. russische Autokratie und Rechtlosigkeit und bietet der gesamten Bevölkerung auf der Basis einer politischen, nicht ethnisch definierten Nation eine demokratische Alternative.


In dieser Form knüpft das Konzept durchaus etwa an Überlegungen von Mykola Kostomarov an, der im 19. Jh. allerdings angesichts der Zensur nur implizit einen solchen Gegensatz der (politischen, auch nationalen) Identitäten innerhalb des Russländischen Reiches zwischen Russen und Ukrainern aufgrund unterschiedlicher historischer Traditionen vertrat: 


Politische Partizipation und individualistische Gesellschaftstradition in der Ukraine stand bei ihm im kontrastiven Gegensatz zu politischer Autokratie und Kollektivismus in der russischen Bauerngemeinde bzw. in Russland.


Deutlich ist die Parallele zum historischen Gegenstück während der Zwischenkriegszeit, als sich mit polnischer Unterstützung das prometheische Projekt entfaltete: 


Nachfolgestaaten des Russländischen Reichs planten antimperialistische Selbsthilfe explizit gegen die Sowjetunion, wie Zaur Gasimov in diesem Band mit dem Fokus auf strategische, letztlich dekolonialistisch entworfene Pläne hinsichtlich der Ukraine erklärt.



Post- und De Kolonialistische Perspektiven


Schon ab 1900 - d.h. sehr früh - und in erneuter Intensität seit 1990 zunehmend wird zur Beschreibung der Beziehung der Ukraine zu Russland bzw. zur Sowjetunion eine zunächst antikolonialistische, dann auch eine postkolonialistische Perspektive eingenommen.


https://www.die-tagespost.de/politik/russlands-letzter-kolonialkrieg-art-235991




Diese Perspektivierung hat und hatte jedenfalls dekolonialistische Bedeutung und Wirksamkeit sowie erfolgte und erfolgt unmittelbar in dieser Absicht. Auch der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine wurde international bereits mehrfach nicht unbegründet als Kolonialkrieg eingeordnet.


https://de.wikipedia.org/wiki/Kolonialkrieg




Die für die Definition von modernem Kolonialismus wesentliche Absicht, einem anderen Staat und seiner Bevölkerung die eigene Lebensweise mit Gewalt vorzuschreiben, in Verbindung mit wirtschaftlicher Ausbeutung, geht aus den bisherigen offiziellen Darlegungen zum Krieg unverkennbar hervor. 


Entsprechend erfolgt ukrainischerseits die diskursive Abwehr der invasiven, explizit deukrainisierenden russischen Kulturpolitik (etwa im Rahmen der Kriegserklärung vom 24. Februar 2022) unmittelbar in dekolonialer Form. 


Schwer verständlich bleibt, dass Putins Bemühungen, Russland selbst und sogar den aktuellen Angriffskrieg als postkolonialistischen oder dekolonialen Akteur oder Aktion darzustellen, im globalen Süden zu verfangen scheinen. 


Erklärbar sind diese Wahrnehmungen Russlands jedoch vor dem Hintergrund der sowjetischen Selbstinszenierung als postkoloniale, ja subalterne Macht. Gegenüber dem Versuch Moskaus, politisches und mit der Söldnergruppe Wagner militärisches Kapital in Afrika aufzubauen, erklärt sich eine gleichzeitige verstärkte Bemühung der EU und der Ukraine um afrikanische Staaten, sowie etwa die Absicht der Ukraine, 2023 neue Botschaften in Afrika einzurichten, wie Präsident Zelenskyj 2022 bekannt gab.




Insgesamt sind anti-, post- und dekolonialistische Debatten gerade im östlichen Europa sehr intensiv und Ausdruck der globalen Diskussionen. Direkte, durch mitteleuropäische Imperien herangetragene Kolonisierungen we seitens Österreich-Ungarns in Bosnien oder des Deutschen Reichs in Polen oder Orientalismen wie der „,Erfindung Osteuropas" oder des „Balkans* stehen dabei im Zusammenhang mit imperialen Beziehungen europäischer Großmächte zum Osmanischen Reich und auch Russland, die - gerade in dieser transimperialen Konkurrenzsituation - jedoch beide eigene ,,zivilisatorische Missionen“ entwickelten. 


Für das Polen der Zwischenkriegszeit wird die Mimikry der Imperien bzw. der früheren Teilungsmächte debattiert, aber auch unmittelbare Kolonisierung der östlichen Gebiete, die heute Teil von Belarus' und der Ukraine sind.


Auch Ungarn und Litauen entwickelten koloniale Projekte in Afrika. Nationale Wortführer, die als ,,Subalterne" Imperien abzulösen versuchten, entfalteten wie etwa in Indien auch im östlichen Europa im neuen Staat Formen von „Small Power Imperialisms". 


Im bulgarischen wie im serbischen Fall diente dabei der Rückgriff auf mittelalterliche Reichsbildungen zur Blaupause einer selbstbewussten, ja imperialen und zugleich dekolonialistischen Emanzipation vom Osmanischen Reich. 


In „Südserbien" d.h. Makedonien oder ,,Altserbien“ d.h. dem Kosovo oder in den Rhodopen führte dies jedoch zur eigenen „inneren" Kolonisierung der überwiegend muslimischen Bevölkerung. 


Im Unterschied zu den klassischen Kolonien in Übersee handelt es sich im östlichen Europa ähnlich wie in Irland in der Regel solche um imaginierte „innere Kolonisierungen" bisher äußerer Gebiete durch expansive, kleine oder große Imperien: Multiple Kolonialismen: 


Überlagerungen imaginierter innerer Kolonisierungen des Äußeren?

Auch ohne Bezug zur Ukraine hat sich die Deutung Russlands als Imperium das sich durch „Kolonisierung" charakterisiert im und seit dem 19. Jahrhundert und nach 1991 in neuer Schärfe entwickelt. Etkind geht davon aus, dass Kolonisierungsvorgänge sich im Russländischen Reich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen richteten. 


https://de.wikipedia.org/wiki/Innere_Kolonisation


Das analytische Konzept der „inneren Kolonisierung" kommt so nicht nur für die räumlich außerordentlich ausgedehnten und deshalb gewissermaßen externen Randgebiete des Imperiums zum Zuge:


Insgesamt wurde die analphabetische bäuerliche Bevölkerung Russlands, so die These, und gerade die „ethnisch" russische Bevölkerung, seit der Frühen Neuzeit durch die eigene, europäisierte und bis zur Mitte des 19. Jhs. weitgehend fremdsprachige - französisch sprechend, oder deutsch etc. sozialisierte russländische Elite kolonisiert.


Kulturelle Praktiken der Herstellung sozialer Differenz, auch in Verbindung mit orientalistischen Vorstellungen der imperialen Elite gegenüber der eigenen Bevölkerung, führten zur wirklichkeitsprägenden Vorstellung einer enormen Kluft zwischen Adligen und den zu kolonisierenden Bauern. 


Die Bevölkerung des Kerns des Reiches wurde mit Etkind von der verwestlichten Elite als kulturell different konstruiert und stellte das eigentliche Ziel der kolonisierenden imperialen ,,mission civilisatrice“ dar. Die Gruppe der Slavophilen und die Bewegung des narodnicestvo bzw. der „Gang ins Volk" werden aus dieser Sicht zum Beginn einer inneren Dekolonisierung.


https://de.wikipedia.org/wiki/Dekolonisation




Verwandte Praktiken des Kolonialismus und der kulturellen Distanzierung seien in der Sowjetunion erneut aufgetreten.

Als Teil oder parallel zu dieser Debatte wurde gerade in den Hauptstädten und mit Bezugnahme auf Inszenierungen zarischer Herrschaft (Wortman) durch die national loyale Intelligenz eine äußere, ausländische Kolonisierung Russlands imaginiert, von der es sich aus ihrer Sicht zu emanzipieren galt. 


Für die früher polnisch-litauischen Gebieten, d.h. die Ukraine und Belarus', die - als „(Süd-)Westrussland“ bezeichnet wurden, konnte hingegen eine „imaginierte innere Kolonialisierung des Äußeren“ beobachtet werden.


Die Betonung der fiktionalen Ebene, der im Rahmen von „invented Traditions“ propagandistisch erfundenen „Innerlichkeit“ von bisher äußeren Territorien ist dabei entscheidend - andernfalls, wenn eine tatsächliche Zugehörigkeit zum „Inneren” des Imperiums vorausgesetzt wird, wird diese Deutung als unfreiwillige Umarmung der Ukraine im 19. Jh. und ihre heutige Interpretation als angebliche „innere Kolonisierung” von jüngst annektierten Gebieten als erneute, “zweite Kolonisierung” abgelehnt.


Somit bei weitem nicht als erste und einzige Stimme, im deutschsprachigen Kontext aber prominent vertreten sprach sich etwa der Soziologe Mykola Rjabcuk schon vor 2014 prominent für einen postkolonialen Zugang zum historischen und aktuellen Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine aus. Er sieht für die imperiale Perspektive seit dem 19. Jahrhundert Ähnlichkeiten zur Beziehung zwischen Robinson und  Freitag oder evoziert das Bild des armen Verwandten Russlands. 


Im postkolonialen Diskurs in Russland nach 1991 sind diese Perspektiven immer noch aktuell, während sich auch ukrainische Diskurse aus dem historisch jungen Verhältnis zu Russland noch kaum gelöst hatten mit den Entwicklungen seit 2014 und umso mehr seit 2022 erscheint diese Emanzipation aber unumkehrbar.


Die Sowjetunion wie Jugoslawien inszenierten sich zwar als postkoloniale und „befreiende" Mächte, sie wurden jedoch zeitgleich und im Rückblick selbst regelmäßig als imperial oder kolonisierend gedeutet. Die zwar deutlich dekolonisierend angelegte

„Einwurzelungspolitik (korenizacija) der frühen Sowjetunion wird von der internationalen Forschung seit langem als ,,höchste Form des Imperialismus* interpretiert, d.h. als ,,affirmative action Empire:


Zwar kam den früher offenbar kolonisierten Gegenden nun als Teilrepubliken mit eigenen Nationen eine Förderung zu, aber da die russische Nation keine solche erfuhr, blieb sie implizit die imperiale, die Sowjetunion insgesamt dominierende.


Gerade die sowjetische Wirtschaftspolitik verfolgte gegenüber den Peripherien zum Ziel der Förderung der gesamtstaatlichen Interessen ganz explizit kolonialistische Absichten, wie die Analyse u.a. einer der zentralen Institutionen: „Goskolonit", d.h. des „Staatlichen Kolonisationsinstituts", zeigt.


https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/IzpB_338_Kolonialismus_Dekolonisation_barrierefrei.pdf





Insofern entwickelte sich für die Nationalitäten der Teilrepubliken nach der russländischen paradoxerweise gerade als Teil der dekolonialistisch angelegten Einwurzelungspolitik eine zweite, russisch nationale Kolonisierung unter sowjetischen Vorzeichen.


Die heutige Deutung Russlands als vermeintlich von Kolonialismus freies und vielmehr als Opfer des „globalen Westens" oder vermeintlichen eurozentrischen Kolonialismus' als „subalternes Imperium erscheint gegenüber den bisher diskutierten eigenen, aktuellen und früheren imperialen Bestrebungen äußerst abwegig und als leicht durchschaubare, ja bereits traditionelle Form der apologetischen, propagandistischen Subversion und Opfer-Täter-Umkehr.


Neben der übergreifenden, auf Imperien - und bisher zu selten: transimperiale Rivalitäten - ausgerichteten Perspektive wurden in einem zweiten Schritt, auch kleinteiligere, einzelne Diskurse und Entwürfe in den Blick nehmende Interpretamente entworfen


Im Kontext postkolonialistischer Zugänge zu Österreich-Ungarn wurde etwa von Mikrokolonialimus geschrieben ein Konzept, das nun mit Gewinn auch am Beispiel der ganz im gesamteuropäischen Kontext entstandenen nationalukrainischen Entwürfe wie der 1873 (1892) gegründeten (Wissenschaftlichen) Sevchenko Gesellschaft besprochen wird, wenngleich von dieser Gesellschaft im Gegensatz zu den Imperien keinerlei Gewalt ausging und sie als solche bis 1917 ohnehin keine staatliche Trägerschaft erreichten sondern auf Vereinsebene verblieben.


https://www.uni-giessen.de/de/fbz/fb04/institute/geschichte/neuere_geschichte/personen/severin-barboutie-bettina/SarahMariaNoske_abstracts_german_english.pdf




Unterschiedlich perspektivierte Argumentationsstrategien erscheinen übergreifenden Rivalitätszusammenhang als Macht de/legitimierende Diskurse, wobei sich gerade imperiale Herrschaftsgebilde wie Russland gerne als Opfer anderer darstellen lassen.


Umso wesentlicher erscheint es festzuhalten, dass diese Diskurse bzw. postkoloniale Kritik im Sinne der Dekolonisierung Russlands auch ukrainischerseits (und über den sowjetischen Rahmen der Einwurzelungspolitik hinaus) nicht neu sind:


Bereits um 1900 wurde die Ukraine explizit als durch Russland kolonisiert und zu befreien beschrieben46 - ganz ähnliche dekolonialistische Perspektiven sind aber nochmals weitaus früher belegt, etwa in den Schriften der Kyrill und Method Bruderschaft. 


Dieser Diskurs wird aktuell re-produziert, etwa 2005 zum Feiertag der Brüder:


Das Programm der Gesellschaft, wie es in den „Büchern des Seins des ukrainischen Volkes' dargelegt wurde, beruhte auf den Ideen der ukrainischen nationalen Wiedergeburt und des Panslavismus und ging weit über die Grenzen der ukrainischen Problematik hinaus. 


Unter dem Einfluss westeuropäischer Philosonhen und der polnischen Romantik [letztlich handelt es sich um eine kreative. ukrainisierte Adantion des Textes von Adam Mickiewicz, S.R.] entwarfen die Kyrillomethodianer ihre eigene Variante des „Volksmessianismus“: 


Die Hauptperson ihrer großangelegten Pläne sollte das erniedrigte, seiner Freiheit beraubte. aber unbezwungene ukrainische Volk werden. Die Bruderschaftsmitglieder wollten für die Ukraine die Unabhängigkeit und für die ganze slavische Welt die Zerstörung der Leibeigenschaft und des Zartums erreichen. Und gerade ihrem eigenen ukrainischen Volk auferlegten sie die Mission, die Russen von der zarischen Despotie zu befreien - und die Polen von der aristokratischen Despotie. 


Sie waren der Meinung, dass das Ukrainertum alle befreiten Völker in einer Föderation demokratischer Republiken mit dem heiligen Kyiv als Hauptstadt vereinen sollte: ,Alle slavischen Völker sollen das Recht haben, ihre Kultur frei zu entfalten und, was am Wichtigsten ist, sie sind verpflichtet eine slavische Föderation mit demokratischen Institutionen zu erschaffen, wie es sie in den Vereinigten Staaten gibt.'


Das Verhältnis zum Imperium wird bis heute mit Metaphern des Kolonialismus beschrieben. wie auch in der hier zitierten Quelle von 2005, wo lokale ukrainische „, Aborigines-Akteure" als Kollaborateure des Imperialismus' gebrandmarkt wurden. 


In diesem Band verweist Andrij Portnov auf die Ermahnung Russlands durch den ukrainischen Turkologen und Historiker Omeljan Pritsak, die eigene Vergangenheit und insbesondere das Verhältnis zur Ukraine nicht anders als das Frankreichs gegenüber Algerien selbstkritisch zu dekolonialisieren. 


Für die heutige ukrainische Geschichtswissenschaft entscheidend entwickelte Pritsak im gleichen Kontext den am u.a. am amerikanischen Vorbild geleiteten Entwurf und das Desiderat einer nicht ethnisch geleiteten Fokussierung auf die Gesamtbevölkerung und alle Herrschaftswesen, die auf dem Territorium der Ukraine existierten. 


So sollten im Rahmen der Festigung einer politischen, nicht ethnischen ukrainischen Nation beispielsweise namentlich die Krimtataren in eine ukrainische Geschichte integriert werden können - ein Anliegen, das seit 1990 mit neuer Intensivität verfolgt wurde und bis zur Annexion der Krim durch Russland 2014 große Fortschritte machte. 


https://de.wikipedia.org/wiki/Krimtataren







Gerade die Ansätze des Turkologen Pritsak sind insbesondere geeignet, „eurasischen" Geschichtskonzeptionen, die weder während ihrer Entstehung in der Zwischenkriegszeit noch im seit 1991 zu beobachten Revival zu trennen waren von geopolitischen Entwürfen - die sich die russische Regierung inzwischen zu eigen gemacht hat - , paroli zu bieten: 


Eine transregional übergreifend angelegte Sicht auf gemeinsame oder Verflechtungsgeschichte - wie auch die hier gleich vorgestellte transosmanische Perspektivierung - muss keineswegs zwangsläufig die Vereinigung beteiligter Herrschaftsgebiete in einem gemeinsamen Staat bedeuten, ganz im Gegensatz zum Kern der eurasischen These.


Kolonialismen in der Retrospektive: Frühe Neuzeit und Spätmittelalter


Für das Verständnis der heutigen Auseinandersetzung ist aber der zeitliche Rückblick über das bereits angeschnittene 19. Jh. hinaus auch in die Frühe Neuzeit und ins Spätmittelalter bzw. der Blick auf die späteren Perspektivierungen dieser Epochen erforderlich. 


Der spätmittelalterliche Landesausbau gerade im zunächst orthodoxen Rotreußen, der heutigen westlichen Ukraine, wurde seit dem 19. Jahrhundert deutscherseits als „,Ostkolonisation im unmittelbaren Zusammenhang mit der gleichzeitig betriebenen imaginierten ,, inneren Kolonisation" zentraler Gebiete Polens durch Preußen bzw. das Deutsche Kaiserreich eines imaginierten Innern im sogenannten „Westpreußen" oder „Südpreußen oder ruthenischer/ukrainischerseits insbesondere die Herrschaft Kasimirs III. als kolonisatorische polnische „,Fremdherrschaft" gedeutet.


Der gleiche Zusammenhang erscheint heute auch als Bestandteil einer mittelalterlichen, gewaltsam kolonisatorischen „Europäisierung Europas", zu der auch die Expansion der polnischen Krone auf ostslawisches Gebiet beitrug.


Das polnisch-litauische Gemeinwesen der Frühneuzeit ist aber als dezentrales und heterogenes Vielvölkerreich ohne starkes kirchliches oder herrschaftliches Zentrum nicht insgesamt als „Imperium™ oder als Kolonialreich mit der für letztere klassischen klaren Trennung von Kernland und kolonisierter Peripherie zu betrachten.


Allerdings könnte, in Anlehnung an die entsprechende Debatte zum Russländischen Imperium, hinsichtlich beider Staaten mit der wachsenden Kluft bzw. den sich verstärkenden diskursiven und sozialen Praktiken der Herstellung kultureller Differenz zwischen Adligen und Leibeigenen von jeweils einer inneren, für Polen-Litauen insbesondere von einer magnatischen Kolonisierung gerade der Ukraine gesprochen werden: 


Der Großgrundbesitz der den polnisch-litauischen Staat dominierenden Magnaten lag im ruthenischen Osten Polen-Litauens. Obschon diese adligen Latifundienbesitzer vor Ort meist ursprünglich ruthenischer Herkunft gewesen waren, so waren sie spätestens im ausgehenden 16. Jahrhundert katholisch und polnischsprachig sowie wie zahlreiche Wortführer des polnischen Adels mit einem sie von den Bauern unterscheidenden, antiken sarmatischen Herkunftsnarrativ versehen. 


Das gleiche Narrativ griff bis zum Ende des 18. Jh., nun bereits unter russländischer Herrshaft, paradoxerweise auch auf den ukrainischen Kosackenadel über. Allerdings verfügten Wortführer der Orthodoxen sowie der Armenier und Juden stets über genügend kulturelles Selbstvertrauen, um zunächst ungetauften Litauern, deutschen und polnischen Katholiken auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und in dieser Position von ihren Kommunikationspartnern neben der wechselseitigen Ablehnung als Schismatiker immer wieder als gleichrangig anerkannt zu werden: 


Auch die Union von Brest 1596 erfolgte nicht unmittelbar als staatliche Maßnahme, sondern auf Initiative auch der orthodoxen Bischöfe, die sich dem Papst unterstellten, wenngleich ihre Umsetzung erst im ausgehenden 17. Jahrhundert wirklich erfolgreich war, sodass bis ins 18. Jahrhundert die griechisch-katholische Kirche im heutigen Belarus' und in der Ukraine - neben der römisch-katholischen Kirche - ganz überwiegend und mit immer weniger Ausnahmen gegenüber der Orthodoxie vorherrschte.





Heute gilt einer der zentralen Märtyrer der Union, der nach dem polnischen Aufstand von 1863/4 gegen Russland heiliggesprochene Josafat, als Apostel der Ukraine.


Aus diesen und weiteren Gründen wurden die ruthenischen Gebiete Polen- Litauens eher als eine transkulturelle Kommunikationsregion und weniger als unmittelbare koloniale Kontaktzone untersucht. Tatsächlich haben sich aber Überlegungen zu transkultureller Geschichte ganz unmittelbar im Zusammenhang der postkolonialen Ansätze entwickelt. 


Die kulturellen Praktiken der Herstellung und Aushandlung von Beziehungen herrschaftlicher oder konfessioneller Hegemonie, Ausgrenzung und Versuche der Unterdrückung sowie aus diesen entstehende Gegenstrategien blieben dabei und für eine solche Perspektivierung auch Rutheniens stets zentral. 


Im vorliegenden Band zeigt der Beitrag von Yuriy Zazuljak exemplarisch den Ertrag eines solchen Zugangs zu ukrainischer Geschichte des Spätmittelalters auf, indem er komplexe Effekte der Anwendung ,,deutschen Rechts" regional auf Rotreußen und teilweise auf die orthodoxe Bevölkerung fokussiert herausarbeitet.


Liliya Berezhnaya hat für die Frühe Neuzeit und die Dnipro-Ukraine das Konzept der „multiple frontier" entwickelt - hier überlagerten sich in der übergreifenden Perspektive lokale und transregionale Aktionspielräume zwischen osmanischer, polnisch-litauischer, tatarischer, Moskauer und russländischer Herrschaft.


Heute stehen wir entsprechend vor dem Hintergrund der Überlagerungen der Erbschaften mehrerer Imperien und Herrschaftsgebilde auf dem Gebiet der Ukraine vom Khanat über Polen-Litauen, das Osmanischen Reich, Russland. Österreich-Ungarn sowie der Sowjetunion vor eine komplexen Konfiguration multipler und reproduzierter bzw. aufs Neue erinnerter (Post/De)Kolonialitäten. 


Insgesamt bleiben daher trotz der aktuellen erbitterten Konfrontation binäre Dichotomien zumindest auch zu dekonstruieren und in diesen übergreifenden Kontext einzubetten, in dem sich mehrere Konzepte von Staatlichkeit und Imperializität sowie Entwürfe ihrer Ablösung seitens zahlreicher Gruppen mit eigenen Interessen und Handlungsspielräumen im Wettstreit befinden. 


Eine ggf. geeignete Metaperspektive, die gerade auch russische Ansprüche auf angebliche Exzeptionalität oder einen - ebenletztlich ganz im Rahmen europäischer Romantik konstruierten - Sonderweg dekonstruieren kann, seien im Folgenden angedeutet:


Transnationale/ Transregionale Zugänge zur Ukraine.Das Beispiel einer transosmanischen Perspektivierung


Die geschilderte Forschungsdebatten verdeutlichen nicht zuletzt, dass übergreifend gerade für eine Bestimmung ruthenischer oder ukrainischer Handlungsmächtigkeit alle großräumig involvierten Akteure und die benachbarten Imperien miteinzubeziehen sind: 


Hierzu bieten sich seit einiger Zeit im internationalen und nicht auf die Ukraine fokussierten geschichtswissenschaftlichen Diskurs entwickelte transimperiale bzw. transnationale und transregionale Perspektiven an. 


Schließlich stehen Zugänge zur Geschichte der Ukraine vor 1900 vor zahlreichen Herausforderungen, die sich nicht grundsätzlich von Überlegungen zu anderen Großregionen der Welt unterscheiden. Ein transnationalen bzw. transimperialen Verflechtungen nachgehender Zugang verstellt nicht den Blick auf ukrainische Akteure, sondern lässt ihre lokalen und regionalen Manövrierfähigkeiten im Rahmen oder im Widerspruch zu rivalisierenden imperialen Herrschaftsentwürfen erkennbar werden. 


Auch für die heutigen Zusammenhänge ist es daher wichtig, ukrainische Geschichte nicht aus ihrem weiträumigeren historischen Kontext zu isolieren: An erster Stelle sind hier die übrigen früheren Gebiete Polen-Litauens bzw. insbesondere des Großfürstentums Litauen zu nennen - das neben dem Gebiet der heutigen Republik Litauen bis 1569 die größten Teile der heutigen Ukraine und ganz Belarus' sowie längere Zeit auch Smolensk umfasste. 


Seit dem 19. Jh. versuchen die polnische wie die russische und auch die entstehende ukrainische sowie im 20. Jh. die belarusische Geschichtsschreibung, die Geschichte des Großfürstentums als die eigene Geschichte zu zeichnen - im russischen Falle als die eines russisch-litauischen Staates.


Damit stehen die Publikationen zum Thema bis heute für eine im historiographischen Feld ausgetragene erinnerungskulturelle Rivalität der Zuschreibung gerade ostslawischer Geschichte zum östlichen Mitteleuropa, sowie zu mehreren nationalen Kontexten, und in aller Regel, bzw. wo nicht russischerseits betrieben, in scharfer Abgrenzung zum nationalen oder imperialen (groß) russischen Zusammenhang.


Namentlich Präsident Putin greift heute eine nationalrussische Deutung des Großfürstentums Litauen auf und sieht insgesamt polnisch-litauische Geschichte als Irrweg in den Katholizismus bzw. den Westen. Ganz im Einklang mit zahlreichen russischen Beiträgen zur Geschichtsschreibung verkürzt er damit die Geschichte erheblich, umso mehr, wenn er zudem Moskau im Ergebnis als den einzigen berechtigten Erben der Rus' darstellt. 




Unter diesem Blickwinkel sind gezielte aktuelle russische erinnerungspolitische Verweise einzuordnen, die auf eine kenntnisreiche Zuarbeit mediävistischer Fachleute schließen lassen

- wie die Erwähnung der Teilhabe des Fürsten Andrej von Polazk (hier: belarus., russ. Polozk, in der wiss. 


Transliteration: belarus. Polack, russ. Polock), einem Sohn des litauischen Großfürsten Algirdas, auf der Seite Moskaus an der Schlacht gegen die Goldene Horde (diese wiederum verbündet mit dem litauischen Großfürsten Jogaila) auf dem Schnepfenfeld 1380 in einem der pseudogeschichtswissenschaftlichen Pamphlete Putins von 2021 im seit 2014 geführten Krieg gegen die Ukraine: 


Mit der Funktion eines vermeintlich für die Legitimierung des Kriegs relevanten Belegs einer ,,gemeinsamen Geschichte" und einer historischen Nähe von Russen und Ukrainern eingesetzt, sollte diese Bezugnahme auf das Spätmittelalter dazu dienen, die im offenen Angriffskrieg seit 2022 systematisch versuchte - und glücklicherweise weitgehend scheiternde - gewaltsame Auflösung des ukrainischen Staates zu rechtfertigen.





Selbstverständlich ist das Großfürstentum Moskau mit in eine transregionale, und mit den Tataren bzw. der Konkurrenz zum Osmanischen Reich und Persien multireligiöse, ja transosmanische Verflechtungsgeschichte einzubeziehen, wie bei einer Betrachtung der östlichen Gebiete der polnischen Krone ganz Polen mitzudenken ist." 


Beide Perspektive, die Moskauer oder die Warschauer, sind aber eben nicht die einzigen und schon gar nicht zwangsläufigen, teleologischen ,,zwei Wege" (Zernack) historischer Entwicklung slawischer bzw. ruthenischer Geschichte, vielmehr stehen sie im Hintergrund der regionalhistorisch sehr viel naheliegenderen, ja nachvollziehbarer zu erklärenden und selbstevidenten ukrainischen und auch der belarusischen Perspektive auf die Geschichte der multireligiösen, mehrkonfessionellen und mehrsprachigen Gesellschaft Rutheniens. 


Generell ist das Territorium der Ukraine selbstverständlich nicht isoliert vom übrigen Polen-Litauen, und auch nicht getrennt von den benachbarten osmanischen Vasallen, d.h. dem Krimkhanat, der Moldau und der Walachei, sowie insgesamt dem Osmanischen Reich, Moskau oder später dem Russländischen Reich zu verstehen." 


Jüdische, armenische oder „griechische" Bevölkerung als konstitutive Teile einer übergreifenden, europäisch-nahöstlichen, d.h. transosmanischen Migrationsgesellschaft sind auch und gerade zentral für ukrainische Geschichte.


Im vorliegenden Band greifen die Beiträge von Alexandr Osipian, Taisiya Leber, Jannis Carras und Jürgen Heyde entsprechende Perspektiven auf: Sowohl armenische (Osipian) wie griechische Kaufleutenetzwerke (Carras) und in diesem Zusammenhang entstehende oder gestärkte Stadtgemeinden (Heyde mit dem Beispiel einer dreigegliederten, multikonfessionellen Kommunegenese in Podolien) als auch der in diesen mehrkonfessionellen und vielsprachigen Städten konzentrierte Buchdruck (Leber mit den Beispielen kirchenslawischen, griechischen und hebräischen Buchdrucks insbesondere in Lwiw) entwickelte sich im engsten Austausch Polen-Litauens mit dem Osmanischen Reich: 


Während in Polen-Litauen der ostslawische und griechische Buchdruck aufblühte, standen in Moskau und im Osmanischen Reich imperiale Restriktionen im Wege. Gerade der ruthenische Buchdruck kann deswegen über Wissen vom Nebeneinander von Christen, Juden und Muslimen im Rahmen der interreligiösen Polemik und zentralen Bereich der modi vivendi einer komplexen Migrationsgesellschaft Aufschluss geben.


Im Einzelnen lenkt Alexandr Osipian im transepochalen Fokus den Blick auf die Integration armenischer, am Rande aber auch jüdischer Fernhändler in unterschiedliche (bürgerliche wie adlige) Stände der Gesellschaft Polen-Litauens und der Ukraine und damit auf zentrale Aspekte frühneuzeitlicher Stadt- und Staatsbürgerschaftsdebatten.


Jürgen Heyde kann mit der Entstehungsgeschichte gemeindlicher Selbstverwaltung katholischer bzw. polnischer, armenischer und ruthenischer Bürger und der armenischen Chronik am Beispiel von Kam'janec' Migration als Kern der Herstellung und Re-Produktion lokaler Gesellschaft herausarbeiten.


Iannis Carras gelingt es eindrücklich für das 18. Jh., die weiterhin wesentliche Rolle von Bruderschaften in der transimperialen Verflechtung und gerade der Festigung gleichfalls städtischer Selbstverwaltung für ukrainische Territorien auch im Russländischen Imperium vor Ort nachzuzeichnen. 


Diese Ergebnisse zeigen, wie eine inklusive Perspektive die Entstehung und Re-Produktion der polnisch-litauischen Gesellschaft, aber auch des Russländischen Imperiums auf dem Gebiet der Ukraine gerade mit den beispielhaft hervorgehobenen Sondergruppen beschreiben kann, wenn diese aus der bisher vorherrschende Marginalisierung ins Zentrum der gesamten (trans)regionalen Migrationsgesellschaft gerückt werden.

Für viele Themenbereiche lässt sich so gerade im transregionalen Zusammenhang ein Fokus auf die heute ukrainischen Regionen konzeptualisieren. 


Auch teilweise anachronistische nationalhistorische Zugriffe auf die frühe Neuzeit können so eingebettet werden. Insbesondere können für die Zeit vor 1700 anachronistische imperiale Ansprüche Russlands auf diesem Wege dekonstruiert werden. 


Um die geschichtswissenschaftliche Deutungshoheit über ukrainische Geschichte streiten sich zu weiten Teilen bis heute die Historiker imperialer russischer oder russländischer und ukrainischer bzw. polnischer nationalstaatlicher oder geschichtsregionaler Zusammenhänge. Stellt man - beispielsweise und im Falle des vorliegenden Bandes - das Interesse an einer auf ukrainische Perspektiven im übergreifenden Kontext fokussierte Betrachtung in den Vordergrund, sollte dies gerade im Rahmen trans- oder vornationaler, überregionaler Zusammenhänge geschehen. 


Nicht, weil der heutigen Ukraine der Status einer selbständigen Nation abzusprechen ist, sondern weil jeder moderne Nationsentwurf sich zwangsläufig von vormodernen gesellschaftlichen Kontexten unterscheiden muss, die sich einer Nationalgeschichtsschreibung als Vorläufer eines modernen Staates oder einer Nation anbieten: 


Weder die moderne litauische, noch die ukrainische, die belarusische, die polnische oder die russische Staatlichkeit oder Nation ergeben sich teleologisch aus der „vormodernen" Vorgeschichte, ebenso wenig wie die italienische, die slowakische oder die deutsche.


Die Festigung und Abgrenzung ruthenischer bzw. ukrainischer Perspektiven auf die eigene Geschichte ist zentral für diese Vorgänge - und im Fokus des Beitrags von Natalia Sinkevych und Vitalij Tkachuk zu religiösen Erinnerungsfiguren bzw. der Medialisierung von Heiligen, die in der Frühen Neuzeit in einen Zusammenhang mit der Kyiwer Rus', der Stadt Kyjiw oder dem Höhlenkloster als hierfür zentraler Einrichtung gestellt wurden. 





Gerade diese Erinnerungsfiguren stehen im Kern von späteren erinnerungskulturellen Inanspruchnahmen

seitens Moskaus bzw. des Petersburger Imperiums sowie historiographischer Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert. 


In der Gegenwart werden diese Narrative bzw. erfundenen Traditionen gerade durch den Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche Kyrill und zahlreiche der inzwischen durchwegs staatsnahen Medien Russlands zur Legitimation des Versuchs der Auflösung ukrainischer Staatlichkeit durch den Angriffskrieg aktualisiert und mit Vehemenz vertreten.


Geschichtsschreibung und identitätsrelevante Erinnerungskulturen der Gebiete der heutigen Ukraine/ Rutheniens innerhalb Polen-Litauens entwickelten sich folglich im Rückbezug auf die Rus' seit dem Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit neben, mit und gegen polnische, osmanische und krimtatarische sowie litauische und belarusische, moskowitische, sodann später und in der Gegenwart: russländische und russisch-nationale Ausrichtungen. 


Gerade die transimperialen Rivalitäten, aber auch die innerhalb der Imperien entstehenden nationalen Perspektivierungen von Geschichte standen im 19. wie im 20. und erneut im 21. Jahrhundert in einem übergreifenden Kontext, der für den hier gewählten Fokus als transosmanisch bezeichnet werden Kann: Der russische Eurasismus griff das Konzept Turan auf, das zunächst in ungarisch-nationaler Perspektive eine Urheimat in Zentralasien behauptete und dann von den Pan-Turkisten übernommen worden war. 


Die Positionierungen von Omeljan Pritsak, die eine ukrainische agency gerade in diesem Kontext turko-slawischer gemeinsamer Geschichte herstellte, waren und sind zur dekolonialistischen Kritik der eurasischen, imperial-russischen Thesen hervorragend geeignet.


Der Band möchte neben unterschiedlichen Zugängen zur Ukraine bzw. zur Rus', zum Vielvölkerreich Polen-Litauen und zum Russländischen Imperium Geschichtsentwürfe und ausgewanite (vor)nationale und imperiale Themenbereiche in ihren jeweiligen Aktualisierungen teilweise bis in die Gegenwart in einen gemeinsamen transregionalen Konkurrenzzusammenhang stellen: 


Ukrainische Geschichte wird so aus der ihr oft zugeschriebenen Randständigkeit zur exemplarischen, ja zentralen Perspektive innerhalb des östlichen Europa sowie auch in dessen Verflechtung mit dem Nahen Osten.

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