Wie durch Prigoschin die russische Propaganda zusammen bricht

 





«Krieg war nicht notwendig» – mit äusserst offenherzigen Statements bringt Prigoschin das russische Lügengebäude um die Invasion der Ukraine zum Einsturz



Dr. Andreas Umland 


03.07.2023



https://www.nzz.ch/meinung/russische-luegengebaeude-um-die-ukraine-invasion-implodiert-ld.1745376





In einer Rede kurz vor seiner Meuterei hat der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin die Kreml-Propaganda zur Rechtfertigung von Russlands Krieg gegen die Ukraine entlarvt und zertrümmert. Von so regimenah quasi amtlich beglaubigt hatte man das noch nie gehört.


Der Kommandant der russischen Militärfirma Wagner, Jewgeni Prigoschin, ist spätestens aufgrund seiner Meuterei gegen das Moskauer militärische Establishment weltberühmt geworden. 


Die zwar nur eintägige und erfolglose, aber nichtsdestoweniger spektakuläre gewaltsame Machtdemonstration des Söldnerchefs und seiner schwer bewaffneten Wagner-Truppe hat die Fragilität des Putin-Systems offen zutage treten lassen. Es stellte sich heraus, dass der Zar nackt ist.


Was im Trubel um den Söldneraufstand zu wenig Beachtung fand, war Prigoschins explizite Infragestellung einer zentralen Rechtfertigung des Kremls für den russischen Grossangriff auf die Ukraine seit Februar 2022. 


Putin und andere Sprecher des Kremls haben in den vergangenen eineinhalb Jahren immer wieder behauptet, bei Russlands verharmlosend «Spezialoperation» genanntem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine handle es sich um einen Präventiv- und Verteidigungskrieg. Putins Klage, dass die Nato-Osterweiterung Russland bedrohe, wird auch von einzelnen westlichen Beobachtern als legitimes Argument betrachtet.



«Ganz andere Hintergründe»




Im Gegensatz dazu verkündete Prigoschin am 23. Juni 2023 kurz vor Beginn seines «Marsches für Gerechtigkeit» auf Moskau: «Am 24. Februar 2022 war nichts Aussergewöhnliches vorgefallen. 


https://de.euronews.com/2023/06/23/wagner-chef-prigoschin-ukraine-hat-russland-nie-bedroht


Das russische Verteidigungsministerium macht der Öffentlichkeit etwas vor, tut jetzt so, als ob die Ukraine sich wahnsinnig aggressiv verhalten hätte, als ob die Ukraine und die gesamte Nato uns angreifen wollten. Die Spezialoperation, die am 24. Februar begann, hat ganz andere Hintergründe.»



Die Zeit ist gekommen, dem eigenen Hang zur moralischen Äquilibristik endlich ein Ende zu setzen.


Im Weiteren attackierte Prigoschin die Fahrlässigkeit der russischen Militärführung. Diese sei auf einen schnellen und leichten Sieg in der Ukraine mit anschliessender Heldenehrung in Moskau fixiert gewesen. Prigoschin erklärte unter anderem:


«Wofür war der Krieg notwendig? Der Krieg fand dafür statt, dass ein Häufchen Miststücke einfach triumphiert, sich in der Öffentlichkeit präsentiert und zeigt, was es für eine starke Armee ist. Dafür, dass [Verteidigungsminister] Schoigu den Marschallgrad erhält. Das Dekret [zur Beförderung] war schon bereit. Und dass er einen zweiten Heldenstern erhält.»





Und weiter: «Der Krieg war nicht notwendig, um de facto russische Bürger in unseren Bereich zurückzuholen. Nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren. Der Krieg war notwendig für einen Stern [auf der Epaulette von Schoigu].» Und: «Der Krieg war notwendig für die Oligarchen, er war notwendig für denjenigen Clan, der heute de facto Russland regiert. 


Dieser oligarchische Clan bekommt alles nur Mögliche. Wenn bei diesem Clan Unternehmen im Ausland geschlossen werden, dann teilt der Staat sofort inländische Unternehmen auf und übergibt sie dem Clan-Eigentum. Darum werden Geschäftsleute eingesperrt, werden Banken geschlossen, damit dieser Clan nicht den Umfang seiner Gelder verliert.»


Obwohl Prigoschin untergeordnete Akteure in der russischen politischen und ökonomischen Elite zu einflussreichen Entscheidungsträgern in Moskau aufbauscht, dürfte er mit seiner Erklärung prinzipiell richtigliegen. Putins Eskalation gegen die Ukraine im Februar 2022 hatte eher innen- denn aussenpolitische Gründe.


Bereits früher hatte Prigoschin eine zweite zentrale Propagandalinie des Kremls infrage gestellt. Am 23. Mai 2023 kommentierte er auf seinem Telegram-Kanal die angebliche «Entnazifizierung» der Ukraine durch Russland: «Wir sind rüpelhaft gekommen und haben auf der Suche nach Nazis die ganze Ukraine mit unseren Stiefeln abgelaufen. Während wir die Nazis suchten, haben wir es mit allen verdorben.»




https://www.dw.com/ru/prigozin-my-sdelali-ukrainu-naciej-kotoraa-izvestna-vo-vsem-mire/a-65719242




Die Propaganda als Lüge


Äusserungen wie diese wirken ungewöhnlich aus dem Mund eines Mannes, der ein entscheidender Akteur im russischen Krieg gegen die Ukraine ist. Wenn es in den monatelangen, äusserst brutalen und verlustreichen Graben- und Häuserkämpfen um die ostukrainische Kleinstadt Bachmut denn wirklich einen russischen Sieg gegeben hat, kann Prigoschin diesen für sich beanspruchen.


Kochend vor Wut über das Verhalten der Militärführung ihm und seiner Truppe gegenüber desavouiert Prigoschin ganz offen offizielle Begründungen Moskaus für die russische Aggression. Paradoxerweise gilt dies auch für den Einsatz seiner eigenen Wagner-Söldnertruppe, die er jüngst wenig zimperlich mit Kriminellen aus russischen Strafanstalten aufgestockt hatte, denen er nach Erfüllung ihrer Kampfmission die Freiheit in Aussicht stellte.


Tatsächlich ist Prigoschin selbst ein vom russischen Imperialismus beseelter Akteur, der mit seinen Attacken gegen die Moskauer Führung eine Tradition postsowjetischer nationalistischer Scharfmacher fortsetzt. Wiederholt haben Kritiker des russischen Regimes von Rechtsaussen mit ihren Aussagen die Kreml-Propaganda öffentlich der Lüge bezichtigt.




Auch der ehemalige rechtsextreme Parlamentsabgeordnete Wladimir Schirinowski (1946–2022) gehörte in diese Kategorie. Mitte September 1999 etwa kam es zu einem denkwürdigen Vorfall in der Staatsduma, welcher später von Schirinowski publik gemacht wurde. Damals diente eine Reihe von Terroranschlägen, die tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden, dem Kreml als Anlass für den zweiten Tschetschenienkrieg. 


In der verängstigten russischen Bevölkerung war der neue Krieg im Kaukasus populär. Der massenmörderische Feldzug wurde zu einem entscheidenden Faktor für den kometenhaften Aufstieg des damals frischgebackenen Regierungschefs Wladimir Putin.


Die angeblich von kaukasischen Terroristen unternommene Sprengung eines Wohnhauses in der südrussischen Provinzstadt Wolgodonsk am 16. September 1999 geschah allerdings unter bizarren Umständen. 


Der Anschlag war auf einer Staatsduma-Sitzung drei Tage zuvor in Moskau verkündet worden. Offenbar war es bei der geheimen Planung der Aktion sowie ihrer anschliessenden politischen Instrumentalisierung durch den Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) zu einem Lapsus gekommen. (Putin hatte den FSB bis vor seinem Wechsel ins Premierministeramt im August 1999 geleitet.)


2022 berichtete Schirinowski über die Vorgänge im russischen Parlament vom 13. September 1999: «Eine Notiz wurde von jemandem aus dem Sekretariat [der Staatsduma] mitgebracht. Offenbar hatte man dort angerufen, um den Dumasprecher vor dieser Wendung der Ereignisse [dem Terroranschlag] zu warnen. [Der Parlamentsvorsitzende Gennadi] Selesnjow las uns die Nachricht über die Explosion vor. 




https://lenta.ru/news/2002/03/21/seleznev/



Dann warteten wir darauf, dass in den Fernsehnachrichten über den Vorfall in Wolgodonsk berichtet wird.» Dieser passierte jedoch erst drei Tage später, am 16. September 1999.


Sowohl Prigoschin als auch Schirinowski mussten sich des hochexplosiven Charakters ihrer Aussage für das Putin-Regime bewusst gewesen sein. Auch Igor Girkin, ein russischer Paramilitär und einstiger «Verteidigungsministers» der separatistischen «Volksrepublik Donezk», fiel mit unbotmässigen und für Putin peinlichen öffentlichen Aussagen zum ostukrainischen Schein-Bürgerkrieg 2014/2015 auf.


Seit Beginn der angeblichen Donbass-Rebellion im Frühjahr 2014 wird ausserhalb Russlands eine kontroverse Diskussion über den damaligen Kriegsbeginn geführt. Einige westliche Analysten sehen die Hauptquellen des bewaffneten Konflikts im Donezbecken nicht in der russischen, sondern – wie von der Kreml-Propaganda behauptet – in der ukrainischen Politik.


In einem Interview für die russische rechtsextreme Wochenzeitung «Sawtra» (Morgiger Tag) offenbarte Igor Girkin im November 2014 allerdings: «Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt. Wäre unsere [bewaffnete] Einheit nicht über die Grenze [aus Russland in die Ukraine] gekommen, wäre alles so ausgegangen wie in Charkiw und Odessa.» 




https://www.sueddeutsche.de/politik/russischer-geheimdienstler-zur-ostukraine-den-ausloeser-zum-krieg-habe-ich-gedrueckt-1.2231494



In diesen beiden und anderen vorwiegend russischsprachigen Städten der Ukraine waren im Frühjahr 2014 – anders als im Donbass – lediglich unbewaffnete Agenten Moskaus aktiv. Diese schafften es damals nicht, bürgerkriegsähnliche Zustände auch in anderen Regionen der Ost- und Südukraine künstlich herbeizuführen.



Harte Nuss für Putin-Versteher


Hinzu kam, dass Girkin als ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier während seines paramilitärischen Vorstosses in der Ostukraine im April 2014 in ständigem Kontakt mit russischen Regierungsorganen stand. 


Offensichtlich agierten Girkin und Konsorten 2014 als inoffizielle Agenten des russischen Staates in dessen «delegiertem Krieg» gegen die Ukraine. Wie später Prigoschin, so widersprach Girkin im November 2014 mit der Übernahme der Verantwortung für die Auslösung des russisch-ukrainischen Krieges sieben Monate zuvor einer zentralen Propagandalinie des Kremls.




Die besondere Brisanz der jüngsten Eingeständnisse Prigoschins besteht darin, dass sie die Thesen einer Mehrheit von westlichen Experten quasi amtlich bestätigen. Wie Schirinowski und Girkin ist er Exponent eines aggressiven russischen Imperialismus. Sie alle sind in dieser oder jener Rolle Teil des Systems Putin. 


Bei Prigoschin kommt hinzu, dass er ein persönlicher Zögling Putins ist und seine schillernde Karriere vollständig seinem Patron im Kreml zu verdanken hat.

Prigoschins offenherzige Statements dürften selbst für westliche Hardcore-Putin-Versteher schwer zu verdauen sein. 


Doch auch in Medien, Parlamenten, Ministerien, Universitäten, Instituten und Parteien rund um die Welt hat die Expansionsapologetik des Kremls trotz vielen entlarvenden Eingeständnissen der Akteure vor Ort lange dankbare Abnehmer gefunden. Die Zeit ist gekommen, dem eigenen Hang zur moralischen Äquilibristik endlich ein Ende zu setzen.

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